Schulbesuch

Ich kann mich gerade nicht daran erinnern, vor welchem Termin ich noch etwas Zeit zu verbringen hatte. Auf dem Weg dorthin fuhr ich an der Schule vorbei, in die ich vor fast fünfzig Jahren an einem ebensolchen freundlichen Augusttag eingeschult worden war. Einer Regung folgend hielt ich an, überquerte die Straße, betrat den Schulhof wie vor all diesen Jahrzehnten und setzte mich auf eine Bank vor dem Gebäudetrakt, in dem sich das Klassenzimmer meiner letzten beiden Schuljahre befand. Noch waren Ferien und Gebäude, Hof und Anlagen in einer unnatürlichen Ruhe versunken. Viele Veränderungen stellte ich fest. Das gesamte Gelände war neu-gestaltet (wie oft schon in all diesen Jahren?). Das Hausmeisterhaus war einem kreisförmigen Anbau gewichen, auf dem Gelände der ehemaligen Baracken der Grundschulklassen standen jetzt doppelstöckige, gemauerte Schulgebäude, die Turnhalle war offenbar einer Totalsanierung unterzogen worden. Vieles hatte sich deutlich verändert. Der Kern allerdings, die drei, durch überdachte, offene Gänge im Erdgeschoss verbundenen Hauptgebäuderiegel, war deutlich zu erkennen. Ich sah mich die Treppen hinaufsteigen, den Klassenraum betreten und konnte den Platz meines Tisches mit Hilfe der unveränderten Fensterlage von unten genau bestimmen.
An die sechs Jahre, die ich zwischen meinem zehnten und sechzehnten Lebensjahr in dieser sogenannten Realschule verbrachte, habe ich nach herkömmlichem Verständnis überwiegend schlechte bis sehr schlechte Erinnerungen. Nichts habe ich in diesen sechs Jahren in diesen Gebäuden mit Enthusiasmus, uneingeschränkter Freude oder gar Leidenschaft getan.
Warum drängt es mich an diesen Ort, warum sitze ich hier auf dieser Bank und überlasse mich für einige Minuten diesem Schulgebäude, diesem Schulhof, diesem Ort?
Zunächst einmal hat mich schon seit jeher alles fasziniert, dessen Bestand ganz offenbar dem Empfinden eines pausenlosen und schnellen Vergehens meines eigenen Daseins etwas entgegenzusetzen hat. Gebäude, insbesondere alte Gebäude, waren und sind Zeugen einer mich beruhigenden Verlangsamung der Vergänglichkeit und ich hege das größte Verständnis für Menschen, die gottgleich (Bau-)„Werke“ für die Ewigkeit herstellen möchten, und wenn es mir hin und wieder gelingt, die verfaulten Stellen meiner protestantischen Bescheidenheit zu ignorieren, stelle ich fest, dass ich genau das auch will.
Mit diesem Schulgebäude verbunden sind meine Erinnerungen. Die Mauern sind dieselben wie die, die schon zu der Zeit, auf die sich meine Erinnerungen beziehen, dort standen. Und so, wie diese Mauern und das Gebäude jetzt vor mir stehen, stellen sich auch die Bilder und Zustände wieder vor mich, die unabdingbar mit diesen Mauern und dem Gebäude verbunden sind. Diese Bilder und Zustände waren es, die zu meiner Schulzeit ein Handeln, ein Machen nach vorne ermöglichten, das jetzt, auf dieser Bank sitzend, der Vergangenheit, aber nicht der Vergänglichkeit anheimgestellt ist. Der Vergänglichkeit entgegen stellt sich das jetzt bestehende Gebäude, als Ort meines Daseins in der Vergangenheit.
Natürlich wissen wir, dass letztlich alles der Vergänglichkeit anheimgestellt sein wird, so auch dieses Gebäude. Das Problem, das sich meiner Wahrnehmung stellt, ist die Tatsache, dass der Vergänglichkeitsverlauf offenbar nicht an das chronologische Zeitschema von Vergangenheit als das Gewesene, Gegenwart als das Anwesende und Zukunft als das kommend Anwesende gebunden ist.
Auf der Bank vor der Schule sitzend, mich erinnernd, stellt sich das scheinbar schon Vergangene als Anwesendes vor mich und verursacht im nächsten Augenblick meine unmittelbare Zukunft als gegenwärtige Erinnerung.
Vergänglichkeit ist in diesem Sinne ein Umwandlungsprozess, der auch ohne einen menschlichen Willen unablässig geschieht. Der Versuch, diesen Prozess willentlich zu beeinflussen, ist Gestaltung.
Um uns vor Nässe und Kälte zu schützen, bauen wir ein Haus. Das Haus ist bezogen auf Nässe und Kälte nichts anderes, als die von uns selbst gestaltete Erinnerung an trockene und warme Verhältnisse, während wir Kälte und Regen erfahren. Das Haus setzt die Wirklichkeit, die Nässe und Kälte auf uns haben, aus. Wir erfahren die Anwesenheit eines trockenen und warmen Drinnen bei gleichzeitiger Anwesenheit eines nassen und kühlen Draußen. Die Chronologie Nass/Kalt und Warm/Trocken hat sich in zwei gleichzeitig anwesende Räume verwandelt, Draußen und Drinnen.
Gestaltung ist die Umwandlung von Daseinsbedingungen, und die Erinnerung vergangener Daseinsbedingungen ist eine zwingende Voraussetzung für diesen Prozess.
Die Umwandlung von „Nass/Kalt“ in „Warm/Trocken“ entspringt einem Bedürfnis, also dem Wunsch oder dem Verlangen, eine unangenehme Gegenwart möge sich in eine positive Zukunft wandeln. Hierfür müssen wir uns die positive Zukunft jedoch vorstellen können. Vorstellen bedeutet hier, das Ergebnis der Umwandlung erinnern zu können.
Hätte ich vor meiner „Realschulzeit“ keine anderen Erlebnisse gehabt als Erniedrigung, Demütigung und Verhinderung, dann wäre diese „Schule“ nichts weiter gewesen als der Ort, an dem Menschwerdung endgültig verhindert wird. Meine Kindheit vor dieser Realschule war jedoch ausgesprochen glücklich. Ein kindliches Abenteuer, ermöglicht von meinen Eltern, einem Großvater, einer Scheune, einem Bach, vielen Entdeckungen und unablässigem Machen.
Es war mir also möglich, während dieser Schulzeit aus dem Erinnerten heraus eine bessere Welt für mich zu entwerfen, als der pädagogische Dreck dieser Schule, in den nicht meine Eltern, sondern ich selbst mich hineingeworfen hatte.
Auf der Bank vor der Schule sitzend war beides gleichzeitig anwesend: Meine kindliche Verzweiflung und der Mann, der sich unablässig aus dem Geworfenen herausgestaltet hat. Dieses Herausgestalten aus dem Geworfen sein geschieht durch ein Entwerfen meiner selbst. Entwerfen ist der Vorgang, der erinnerte Zustände vergegenwärtigt und in Handlung überleitet. Entwerfen ist also eine Art, Zustände zu erinnern und zu bedenken, die denkwürdig sind. Gestalten ist das Machen, das aus den so bedachten Zuständen hervorgeht. Machen bedeutet hier, die Unbeholfenheit und Unzulänglichkeit meiner selbst immer wieder neu zu überwinden. Ein Zustand also der kontinuierlichen Problemstellung und Problemlösung. Das Sein, so Martin Heidegger, ist die Wiederholung des immer Gleichen.
Da ich verstanden habe, dass Erinnerung der Ursprung aller Gestaltung ist, suche ich als gestaltender Mensch immer wieder Orte auf, die der Vergänglichkeit mehr Widerstand entgegenbringen, als es mir selbst möglich ist, und so ein Entwerfen aus dem Geworfen sein ermöglicht.
Das Schulgebäude vergegenwärtigte meine erinnerten Zustände.
Die Vergegenwärtigung der erinnerten Zustände ist Denken. Ein Ort, der dieses Denken ermöglicht, ist ein Denkmal.
Das Schulgebäude wird zum Denkmal durch meine Erinnerung, und ohne meine Erinnerung, die mit mir vergeht, steht das Schulgebäude in unendlicher Gleichgültigkeit, gestern, heute und morgen.
Unendlich endlich!
Als er in einem Interview einmal gefragt wurde, ob er glaube, in einem früheren Leben schon einmal hier (auf dieser Welt) gewesen zu sein, antwortete der irische Musiker Van Morrison: „Ich weiß nicht, ob ich schon einmal gelebt habe, was ich aber sicher sagen kann, ist, dass ich schon einige Male gestorben bin.“ Van Morrison wollte offenbar weg von esoterischen Vermutungen und den Interviewer darauf aufmerksam machen, dass er mit den Wandlungen im Diesseits vollauf beschäftigt ist. Mit dieser Feststellung hat Van Morrison etwas mehr in mir bewirkt, als seine Antwort vielleicht vorsah. Mehrmals gelebt zu haben bedeutet auch, mehrmals gestorben zu sein, und Morrison spricht hier nicht davon, das Sterben zu bedenken, um klug zu werden, sondern von der Notwendigkeit, mehrmals zu sterben, um weiterleben zu können. Können wir uns eventuell mit der Vorstellung des Wiedergeborenwerdens noch anfreunden, so möchten wir von dem damit verbundenen mehrmaligen Sterben lieber nichts wissen, obgleich es sich (zumindest für Morrison scheint das so zu sein) um die Lebensvoraussetzung schlechthin handelt. Was ist das für ein seltsamer Rhythmus: einatmen – ausatmen, leben – sterben? Aus dem Nichts des Seins heraus werden wir als Einzelmenschen in dieses Leben geworfen und nach aller Mühe des Ent-Werfens und der Herausgestaltung unserer Einmaligkeit wieder in dieses Nichts hineingestorben. Unser Dasein endet und löst sich in einem Nichts auf. Dieses Nichts ist vielleicht nichts anderes, als die Erinnerung des Seins an sich selbst. So wäre Unendlichkeit für mich denkbar: Sterben als Erinnerung des Seins an mein Dasein. Eine Erinnerung, aus der sich das Leben immer wieder neu gestaltet, ein Rhythmus, eine Wiederholung des immer Gleichen.

Rainer Lather
Oktober 2021