Die Documenta15 im Licht der Debatte über „kulturelle Aneignungen“
Mit der Documenta 15 wurde ein umfangreicher Versuch unternommen, das Kunstverständnis nicht europäisch/nicht amerikanisch geprägter Künstler*innen darzustellen und zu inszenieren. Der auffälligste Unterschied bestand zunächst einmal darin, dass nicht das Werk einzelner Künstler*innen hervorgehoben wurde, sondern Arbeitsergebnisse bzw. laufende Prozesse kollektiver Arbeit. Was zu sehen und zu erleben war, hatte sich zum Teil so weit von unserem (europäischen) Verständnis entfernt, dass in der öffentlichen Debatte u. a. von der „Entkunstung der Kunst“ die Rede war. Selbst wenn man die Antisemitismusdebatte abkoppelt, gab es eine scharfe mediale Ablehnung dieser Documenta, die mich einigermaßen befremdet hat. Mir ging es bei meinen Besuchen der Doc15 nicht anders als bei vorhergehenden Documentas: Ich fand Kunst, die insofern für mich funktionierte, als ich überrascht war, staunte, berührt war, mich erinnerte und in der Weise mich selbst befragte, wie es nur Kunst bei mir auslösen kann. Ich sah auch viele Arbeiten, die mich nicht berührten, zu denen ich keinen Zugang fand, oder ich fand einen Zugang und empfand gleichzeitig Langeweile, und ich erlebte sehr viel Propaganda.
Die auf der Hervorhebung des Individuums basierende europäische Kultur hatte ihre Anfänge außerhalb Europas. Sie hatte sie in Ägypten, im heutigen Irak, Israel, Palästina und breitete sich über Griechenland und Rom in Europa aus. Die Doc15 zeigte Kunstansätze aus Kulturen, die weit weniger auf das Individuum ausgerichtet sind (und waren). Insofern war es richtig und gut, uns damit zu konfrontieren, zumal der europäische Eroberungsdrang viele dieser Kulturen zerstört, zumindest aber sehr beeinträchtigt hat. Für mich überraschend war, mit welcher Abneigung und Wut das deutsche Feuilleton auf diese Konfrontation reagiert hat. Bei den Besuchern der Doc15 war das aber größtenteils nicht der Fall und man nahm die Ausstellung und das Rahmenprogramm zum Anlass, über die eigenen Wege und Befindlichkeiten neu nachzudenken. Ja, es stimmt, Autorenkunst gab es fast nicht zu sehen, die großen Namen waren nicht vertreten und wahrscheinlich war diese Documenta so weit vom kommerziellen Kunstzirkus entfernt wie keine zuvor.
Die Diskussion und Empörung über antisemitische Bildinhalte lieferte eine Steilvorlage für eine Ablehnung der gesamten Doc15, und die stringente Verweigerung des Feuilletons, eine auch nur ansatzweise differenzierte Debatte über Kunstfreiheit, Autorenschaft und Kollektiv zuzulassen, hatte zur Folge, dass eine wesentliche Frage dieser Documenta nicht besprochen wurde: Die Aufforderung „Make friends not art“ ist eine fundamentale Kritik am Kunstverständnis europäischer Prägung und stellt die Berechtigung einer Kunst infrage, die von Individuen ohne gesellschaftlichen bzw. kollektiven Auftrag hervorgebracht wird.
Das absolut prägende (und hocherfolgreiche) Modell unserer Kultur basiert auf der Herausbildung des Individuums als umfassendem Entwicklungstreiber. Die Gemeinschaft/Gesellschaft verschafft hier dem Einzelnen die Möglichkeit, aus dem Kollektiv herauszutreten und durch sein Machen etwas in die Welt zu bringen, was wiederum vom Kollektiv/der Gesellschaft aufgenommen und „verallgemeinert“ wird.
Diese Form der Individualisierung verschaffte uns auch die Möglichkeit, zu vergessen, dass wir als soziale Wesen ohne Gemeinschaft nicht überlebensfähig sind. Hierin liegt der Basiskonflikt der abendländischen Kultur. Diese Abhängigkeitsvergessenheit ist Ursache eines enormen Fortschritts, gleichzeitig aber auch Ursache umfassender Verwerfungen und Fehlentwicklungen, von denen der Klimawandel nur eine ist. Wir vergessen schnell oder haben nie bemerkt, dass diese besondere gesellschaftliche Ausrichtung auf das Individuum nur insofern weltumspannend geworden ist, als ein daraus entwickelter Kapitalismus, angefangen mit der Kolonialisierung der Welt durch Europa, heute ein weltbeherrschendes Phänomen darstellt. Neben dieser europäischen Ausrichtung auf das Individuum waren die Kulturen Afrikas, (des indigenen) Amerikas, Asiens und der Pazifikregion mehrheitlich an der Gemeinschaft, also am (über-)lebenssichernden Kollektiv ausgerichtet. Zwar gab es auch in diesen Kulturen herausragende Einzelmenschen als Funktionsträger, aber eine Ausrichtung der Gemeinschaft auf das Individuum so wie in Europa (und den europäisch geprägten Kulturen) gab es nicht. Die Eigenständigkeit des Individuums mit der Möglichkeit, alleine, ohne jeglichen Rückhalt, etwas in die Welt zu bringen, ist ein europäisches Modell. Diese Ausrichtung ermöglichte den ungeheuren Fortschritt unserer Kultur in fast allen Bereichen und ist (war?) die prägende Voraussetzung für alles, was auf dem Gebiet der Kunst hier erarbeitet worden ist. Die Eigenständigkeit des Individuums in diesem Sinn ist also eine zwingende Voraussetzung für ein künstlerisches Denken und Arbeiten in unserer Kultur. Die Aufforderung „Make friends not art“ stellt die Frage nach der Berechtigung dieser Voraussetzung und damit natürlich auch nach der Berechtigung unserer Kunst.
Im Reigen der grundsätzlichen Verunsicherungen war die Doc15 nur ein Ereignis des Infragestellens unter vielen und bezog sich auf unser Verhältnis zu künstlerischen Positionen nicht europäisch geprägter Kulturen. Die Aufregung darüber versteht man, wenn man sich Klarheit darüber verschafft, dass die oben beschriebenen Voraussetzungen für die künstlerische Arbeit durch die eigene Verunsicherung infrage gestellt werden. Diese Verunsicherung spiegelt sich auch in den aktuellen Debatten um „kulturelle Aneignung“, „Wokeness Culture“ und „Political Correctness“. Diese Debatten stellen die Frage nach der grundgesetzlich garantierten Freiheit der Kunst (Artikel 5 GG) im Verhältnis zu moralischen Fragen. Der Versuch oder das Bedürfnis gesellschaftlicher Gruppen, die Kunst selber von den Verwerfungen und Konflikten, die eine heterogene Gesellschaft immer hat, auf der Grundlage moralischer Vorstellungen von Zumutungen für Einzelne zu befreien, ist der Versuch einer Kollektivierung und damit eine Bedrohung für die künstlerischer Arbeit. Sobald Kunst daraufhin untersucht wird, ob sie aktuellen moralischen Vorstellungen bestimmter gesellschaftlicher Gruppen entspricht, und von dem Ergebnis abhängig gemacht wird, ob sie veröffentlicht werden darf, ist es vorbei mit der grundgesetzlich garantierten Freiheit. Die durch Artikel 5 des GG garantierte Freiheit wird, wie alle Freiheiten, nur durch die Freiheitsrechte anderer Menschen eingeschränkt.
(1) Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet. Eine Zensur findet nicht statt.
(2) Diese Rechte finden ihre Schranken in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze, den gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der Jugend und in dem Recht der persönlichen Ehre.
(3) Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei. Die Freiheit der Lehre entbindet nicht von der Treue zur Verfassung.
Bezogen auf die aktuelle Debatte sehen sich beispielsweise Veranstalter*innen aufgefordert, zu entscheiden, ob eine deutsche Musikerin mit Dreadlocks auftreten darf oder ob ihre Frisur eine unerlaubte kulturelle Aneignung ist und eine Herabwürdigung jamaikanischer Menschen darstellt. Einige Akteur*innen von Fridays for Future haben das mit der Ausladung einer Dreadlocks tragenden Musikerin, die bei einer öffentlichen Veranstaltung von Fridays for Future auftreten sollte, eindeutig beantwortet. Die Organisator*innen wiesen allerdings darauf hin, dass sie auftreten dürfte, wenn sie ihre Dreadlocks abnehmen würde. Für dieses Vorgehen gibt es keine gesetzliche Grundlage. Ich möchte hiermit das Engagement von Fridays for Future nicht infrage stellen, und man könnte solche Vorkommnisse lächelnd beiseiteschieben, gäbe es da nicht diese allgemeine Verunsicherung bezogen auf die Errungenschaften unserer Kultur, zu denen natürlich auch die negativen Aspekte gehören, die uns als Individuen offenbar in eine diffuse, dauerhafte Schuld bringen. Die Doc15 stellte unserer auf das Individuum ausgerichteten Kultur eine Kultur des Kollektivs entgegen. Also eine Kultur der immerwährenden und letztlich ausnahmslosen Unterordnung des Einzelnen unter die Belange des Kollektivs. Unabhängig davon, ob mir diese kulturelle Prägung gefällt oder nicht, bleibt die Tatsache, dass ich mit meiner kulturellen Prägung ein individualisierter europäischer Mensch bin und ausschließlich auf dieser Grundlage als Künstler arbeiten kann und das auch will. Die größte Bedrohung dieser Grundlage sehe ich nicht in der Konfrontation mit einer anderen kulturellen Prägung, wie sie uns die Doc15 gezeigt hat, sondern in dem eigentlich berechtigten Bemühen, Menschen und Menschengruppen nicht herabzuwürdigen, auszuschließen oder in irgendeiner Form zu benachteiligen. Interessanterweise beschränken sich diese Bemühungen zunächst einmal nur auf Sprache, Zeichen und Symbole.
Der öffentliche Diskurs über kulturelle Aneignungen ist nicht zu trennen von dem jahrelangen Bemühen um Political Correctness. Seit Anfang der 90er-Jahre wird das Thema aus Amerika kommend auch hier intensiv und sehr kontrovers diskutiert. Eine prägnante Zusammenfassung, um was es eigentlich geht, stammt von dem Sprachwissenschaftler Anatol Stefanowitsch aus dem Jahr 2010: „Entscheidend ist bei der politisch korrekten Sprache das Ziel, durch eine Bewusstmachung sprachlicher Diskriminierung eine Bewusstmachung tatsächlicher Diskriminierung zu erreichen. (…) Politisch korrekte Sprache kann dabei helfen, strukturelle Ungleichheiten aufzudecken.“ Das glaube ich persönlich nicht. Stellen wir uns zwei Sätze vor:
- Ich bin der Meinung, Nigger sollten strikt getrennt von Weißen leben und arbeiten und eine Vermischung der Rassen sollte unbedingt verhindert werden.
- Ich bin der Meinung, People of Color sollten strikt getrennt von Weißen leben und arbeiten und eine Vermischung der Rassen sollte unbedingt verhindert werden.
Was unterscheidet diese beiden Sätze? Natürlich nichts. Vielmehr glaube ich, dass Menschen, die sich aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe für überlegen halten, sprachliche und handlungsbasierte Diskriminierungen sehr bewusst vornehmen, und dass die Diskussion um politische Korrektheit eher davon ablenkt, indem sie suggeriert, dass eine sprachliche Aufhebung der Diskriminierung die Diskriminierung selbst (irgendwann) eliminiert. Wir finden zahlreiche Beispiele für das Scheitern dieses Ansatzes. An dem mörderischen Rassismus hat sich seit Sklavenhalterzeiten nicht viel geändert. Die Chancen, als Schwarzer in den USA bei einer Polizeikontrolle erschossen zu werden, sind ungleich höher als bei einem Weißen. Auch diese Mörder verwenden heute politisch korrekte Bezeichnungen und sprechen unter Umständen von „People of Color“ oder „Afro-Americans“, meinen aber selbstverständlich „Nigger“. Das Wort „Neger“ war aus dem deutschen Sprachgebrauch fast verschwunden. Ich wette, dass es seit der Einführung des Begriffs „N-Wort“ in den Köpfen präsenter ist, als es in den letzten vier Jahrzehnten war.
Die Gegner*innen kultureller Aneignungen sind schon einen Schritt weiter: Es wird suggeriert, dass bestimmte Merkmale einer anderen Kultur nicht ohne Erlaubnis der entsprechenden Kulturträger benutzt werden dürfen. Diese ungeheure und weitreichende Forderung lässt sich nur mit einer dubiosen kollektiven Schuld erklären und ist ein kontrafaktischer, also ideologischer Befehl an das Individuum, eine kollektive Schuld zu individualisieren. Klar wird das, wenn man sich fragt, wer denn eventuell mir, dem Europäer, eine Erlaubnis zum Tragen von Dreadlocks ausstellen könnte? Eine jamaikanische Kulturbehörde vielleicht? Freilich nicht. Das Problem der Zuständigkeit, Ermächtigungen zu erteilen, wird mit einem grundsätzlichen Unterlassungsgebot folgerichtig beantwortet. Dieses Unterlassungsgebot lässt sich mit der in Art. 5 GG garantierten Freiheit von Kunst und Wissenschaft nur dann in Einklang bringen, wenn ich als Künstler auf prägende Anteile meiner Identität verzichte. Was das bedeutet, möchte ich an einem kleinen Beispiel deutlich machen:
Wer wie ich in den 60er- und 70er-Jahren in dörflicher oberhessischer Enge aufgewachsen ist, für den war die populäre Musik dieser Zeit ein Tor zur Welt. Die Beatles, die Stones, Dylan, Hendrix, Clapton und dutzende Gruppen und Musiker vorwiegend aus dem englischsprachigen Raum machten eine Welt hörbar, in der ich unbedingt leben wollte. Eine Welt jenseits der Konformität stockkonservativer Institutionen mit nationalsozialistischen Personalaltlasten. Urgrund dieser Musik war schwarzer, amerikanischer Blues. Eine Musik also, die aus dem Leiden der afrikanischen Sklaven in Amerika entstanden ist. Alle von mir verehrten Musiker dieser Zeit wurden nicht müde, Musiker wie Muddy Waters, B. B. King und andere Größen des amerikanischen Blues als ihre Vorbilder, Lehrer und Inspirationsgeber zu nennen. Das ist selbstverständlich eine kulturelle Aneignung. Man erfährt etwas von einer anderen Kultur und erlebt möglicherweise eine Anziehung, die bei intensiver Auseinandersetzung in eine Form von „Aneignung“ übergeht. Hier entsteht etwas Neues, indem kulturelle Phänomene zweier Kulturen in einer Person vereint werden. Am Beispiel der populären Musik wird das vollkommen klar: Die Musik der Rolling Stones beispielsweise ist weder amerikanischer Blues noch europäische Volksmusik, sondern eine Musik, die nur unter dem Einfluss beider Kulturen entstehen konnte und entstanden ist. Die kulturellen Erscheinungen als Ganzes stehen nicht nur zur Verfügung, sondern sie interagieren auch und erlauben damit neue Prägungen ganzer Kulturkreise. Insofern sind kulturelle Aneignungen geradezu überlebenswichtig, jedenfalls dann, wenn man erkennt, dass man selbst ein Produkt umfangreicher kultureller Aneignungen ist.
Wer es immer noch nicht versteht, meldet sich bitte vom Yogakurs ab, meidet die asiatische Küche, hört ab sofort keinen Blues, keinen Rock, keinerlei populäre Musik mehr und denkt bei einem strammen Marsch durch den sterbenden deutschen Wald noch mal gründlich darüber nach, was denn von der hochgeschätzten eigenen Identität ohne kulturelle Aneignungen noch übrig bliebe.
Hier schließt sich der Kreis zur Doc15: Bei dem Versuch, mit den Fehlentwicklungen (und Verbrechen) der europäisch geprägten Kulturen umzugehen, sind wir offenbar geneigt, unsere von kulturellen Aneignungen durchsetzte persönliche Identität grundsätzlich infrage zu stellen. Darauf kann es nur individuelle Antworten bzw. Selbstermächtigungen geben. Das lässt sich für einen europäisch geprägten Menschen nur in der Selbstreflektion herausfinden und für Kunstbetreibende nur in der Anerkennung der persönlichen, nicht abgesicherten Autorenschaft. Die Aufforderung des Doc-15-Kuratorenteams „Make friends not art“ könnte mit einer Deklaration zum interkulturellen Kunstraub beantwortet werden: „Steal my art and be my friend.“
R. Lather, Februar 2023