Konzept und Poesie in der bildenden Kunst

Im persönlichen Gespräch mit Kunsthistoriker*innen und Ausstellungsmacher*innen über meine Malerei offenbart sich immer wieder ein grundsätzliches Missverständnis:  Meine Vorstellungen, welche „Freiheit“ ich in meinen künstlerischen Entscheidungen habe und welche nicht, scheint doch immer wieder weit entfernt von den Vorstellungen der Kunsttheoretiker*innen zu sein.

Seit über zwei Jahrzehnten male ich Portraits, Menschengruppen, stelle ich Menschen dar. In der Regel sind es Einzelarbeiten, selten Portraitreihen und Serien, manchmal Auftragsarbeiten. Es gibt von meiner Seite aus keinen theoretischen Überbau zu meinen Arbeiten und es gibt in der Regel auch keine geplanten Vorhaben! Nicht nur einmal kam der Vorschlag von außen,  diese oder jene Arbeit auszuweiten und entweder unter einer bestimmten Technik oder einem bestimmten Thema in Serie zu arbeiten, meine Arbeit also zu konzeptualisieren. Das scheint seit Andy Warhols Suppenkonserven ein Indiz für Qualität zu sein, jedenfalls dann, wenn diesen seriellen Arbeiten ein über das sichtbare hinausreichendes Konzept unterstellt wird.

Auf die Interviewfrage, wie er denn auf die Themen seiner Filme kommt, erklärte der Filmemacher Werner Herzog „sie kommen wie Diebe, wie Einbrecher in der Nacht und mit dem ersten der mir begegnet, der mir entgegentritt, muss ich mich auseinandersetzen.

Werner Herzogs biblische Poesie beschreibt den Vorgang wunderbar. Ich suche mir meine Themen nicht aus. Plötzlich stehen sie vor mir und verlangen Auseinandersetzung und Verwirklichung. Ich kann abhauen und mich entziehen aber ich kann mir das zu Bearbeitende nicht aussuchen. Verdichtung und Poesie entsteht nur dann, wenn ich der Welt erlaube, Eindruck auf mich zu machen, unmittelbar und in einer gewissen Weise auch gewaltvoll. Was Werner Herzog hier beschreibt, wird von Künstlern ganz unterschiedlicher Bereiche immer wieder in ähnlicher Form dargestellt. Die Assoziationen mögen verschieden sein, Kern der Aussagen ist aber immer, dass die Idee, die Inspiration von außen kommt. Kann sein, dass dieses „Außen“ ein unbewusstes „Innen“ ist, was für meine Betrachtung hier aber unerheblich ist. Festzuhalten ist, dass der Vorgang, wie ihn Herzog beschreibt, nicht planbar ist. Alles was ich machen kann ist in guter Vorbereitung zu sein, um die „Einbrecher“ zu empfangen, meine „Kampfbereitschaft“ muss handwerklich und technisch auf der Höhe sein. Kommen sie aber nicht, die Einbrecher, dann ist offenbar nichts da, was sich zu rauben lohnt.

Seltsamer Weise ist es von allen Sparten gerade der Bereich der bildenden Kunst, indem viele Akteure darauf verfallen sind, ihre Kunst einem sogenannten Konzept zu unterwerfen, bzw. das Konzept als übergeordnet, sinngebend ihrem jeweiligen Machen überzustülpen oder überstülpen zu lassen. „Die Malerei alleine reicht mir nicht“ sagte ein von mir geschätzter Kollege, dessen malerische Poesie so wenig ein Konzept braucht wie das Panther-Gedicht von Rilke. Auch viele Maler und Bildhauer trauen offenbar ihrer eigenen Poesie nicht mehr und versuchen konzeptuell, also planmäßig, ein Thema zu bearbeiten. Heraus kommen oft Arbeiten, die einer meist schriftlichen Erläuterung (Vermittlung) bedürfen, um das sichtbare, das erlebbare oder eben nicht erlebbare Werk mit dem Konzept in Verbindung zu bringen. Diese Vermittlungen in einem anderen Medium, nämlich Sprache, erleichtern unter Umständen den Zugang zum Konzept, verhindern aber oft den unmittelbaren Zugang zur Poesie, also der Dichte des Werks. Nicht selten wird eine potentielle Verdichtung durch ein vermitteltes Konzept „entdichtet“ und so seiner Kraft und Unmittelbarkeit beraubt.

Mit anderen Worten: Rezeptionsverlagerungen bzw. Verschiebungen zerstören zwar nicht die Poesie des Werks, wenn das Konzept überhaupt Poesie zulässt, erschweren oder verhindern aber den direkten Zugang der Rezipient*innen.

Einen nicht immer positiven Beitrag zu dieser Entwicklung leisten Kunsthistoriker, die oft als Ausstellungsmacher in Museen, Kunstvereinen, etc. fungieren. Kunsthistoriker sind zunächst einmal Wissenschaftler, die sich mit der Zuordnung und Analyse künstlerischer Phänomene zu historisch- soziologischen und sozialpsychologischen Gegebenheiten beschäftigen. Wahrheit, wie sie sich in Rilkes Gedicht offenbart, offenbart sich nicht durch die Aneinanderreihung von Fakten, bzw. Tatbeständen, die eine wissenschaftliche Untersuchung zum Thema „Verhalten von Tieren in zoologischen Einrichtungen“ hervorbringen könnte. Sie unterscheidet sich ganz grundsätzlich davon und jeder versteht das.

Man stelle sich vor, ein Kunsthistoriker, angesprochen und durchaus auch begeistert von Rilkes Gedicht hätte Rilke vorgeschlagen, sich intensiver mit der Thematik Tier in künstlichem Habitat zu beschäftigen und eine Serie von Gedichten zu schreiben, die sich nicht nur den Panther sondern jeweils ein anderes Tier vornimmt. Wie gesagt, im besten Falle bliebe etwas von der Poesie, die den Panther auszeichnet auch noch in den anderen „Zoogedichten“ übrig, wahrscheinlicher ist aber, dass die Poesie, die Verdichtung, beschädigt wird oder sogar durch eine Art künstlich-empirischer Konzeption, einen pseudo-wissenschaftlichen Anstrich bekommt, der die Poesie ganz vernichtet. Das hat Rilke, wie wir wissen, nicht gemacht, Gott sei Dank! Bei einem Zoobesuch ist Rilke vor dem Käfig des Panthers offenbar von einem (Inspirations-) Einbrecher überfallen worden und musste sich augenblicklich und konzeptlos mit ihm auseinandersetzen.

Interessanterweise taucht diese Poesievernichtung in der bildenden Kunst oft als Qualitätsmerkmal auf: Das Konzept, egal wie abstrus, abseitig und weit hergeholt es auch sein mag scheint zu beweisen, dass sich hier ein Künstler ernsthaft und intensiv mit einem Thema auseinandergesetzt hat. Viele dieser Konzeptarbeiten zeichnen sich durch eine deutliche und empfindliche Selbstbezogenheit aus und thematisieren das prekäre Verhältnis der jeweiligen Künstler*innen zu den unwirtlichen Regionen der Verständnislosigkeit der angesprochenen potentiellen Kunstbenutzer, von denen sich wiederum viele gelangweilt abwenden, weil sie lieber „einen guten Krimi“ sehen wollen, als sich in bildungsbürgerlicher Manie in eine Serie belehrender Chiffren und Zeichen zu vertiefen. Ein für mich sehr markantes Beispiel dieser „Art“ entdeckte ich vor vielen Jahren einmal in Berlin.

Der Baseler Installationskünstler Kilian Rüthemann hatte auf einer Brache im Zentrum Berlins eine Arbeit installiert, die von dem Berliner Programmmagazin „Tip“ in gewohnter Berliner Schnoddrigkeit mit dem Titel „Kunst-Gruben“ wie folgt vorgestellt wurde:

Kilian Rüthemann hat auf dem Gelände des sogenannten Skulpturenparks im Zentrum Berlins 300 kleine, halbkugelförmige Gruben ausgehoben und gibt so einen „gerasterten Blick auf den geschichtsträchtigen Untergrund des Geländes frei“ (Katalog). Die Kuratoren behaupten, dass sich Rüthemann mit seiner Geste „auf den ausgetretenen Pfaden der Land-Art“ bewegt, sie jedoch auch „wiederbelebt“ und gleichzeitig „untergräbt“. Darauf muss man auch erst mal kommen.

Rüthemann der zu anderen Gelegenheiten sehr wohl verdichtete und poetische Arbeiten geschaffen hat, bot hier eine Arbeit vollkommener Inspirationslosigkeit an. Übertroffen wurde dieses relevanzlose Werk offenbar nur noch von scheinbar erklärenden, letztlich aber einfach nur lächerlichen Katalogtexten, auf die „man erst mal kommen muss“.

Es gibt keinen schlimmeren Zustand für einen Künstler, als Inspirationslosigkeit und ich glaube, dass die Mehrheit der Kunstschaffenden diesen Zustand kennt. In Zeiten mangelnder Inspiration ist die Versuchung (auch für mich) groß, sich selbst ein Thema zu stellen, also nicht auf die Einbrecher zu warten, sondern die Choreografie eines Einbruchs selbst zu inszenieren und mit bezahlten Schauspielern, selbst aufgebrochenen Türen, eingeschlagenen Scheiben und durchsuchten Möbeln zu experimentieren. Ich will nicht abstreiten, dass es auch hier zu poetischen, zu verdichteten Momenten kommen kann, die der Langeweile und des Vorhersehbaren stehen auf Grund der selbstinszenierten Choreografie aber immer im Vordergrund.

Für mich selbst, für meine Malerei hoffe ich auf wirkliche und wirksame Einbrecher, die mir keine Wahl lassen. Meine Malerei zeigt die jeweilige Auseinandersetzung mit diesen Einbrechern. Überträgt sich die Spannung dieser Auseinandersetzung, auf Betrachter*innen, löst sie Selbstbefragung und Reflektion aus, dann ist mit dieser Konzept- und Planlosigkeit alles erreicht, was Kunst erreichen kann, nämlich die intimste Form der Erinnerung des Betrachters/ der Betrachterin an sich selbst.

Rainer Lather, März 2020, überarbeitet Februar 2024