Texte

Nichts sagen können

Rainer Lather malt, seit er 16 Jahre alt ist. Das sind 44 Jahre. In diesen gut vier Jahrzehnten hat er nicht nur ein umfangreiches malerisches Œuvre geschaffen, sondern viele seiner Gedanken auch in einem Buch dargelegt. Als ich zur Vorbereitung für diese kleine Einführung dieses Buch in die Hand genommen habe, war ich für einen Moment - wie man so schön sagt - wie vom Donner geschlagen! Plötzlich stand eine Frage vor mir: Wie soll ich zu all dem, zu den Gedanken und hauptsächlich natürlich zu den Bildern etwas Angemessenes sagen? Das geht gar nicht!

Das meine ich durchaus im Ernst: Es geht eigentlich nicht.

Dabei klingt es, wenn man Texte über Kunst liest (oder hört) oft so, als sei es problemlos möglich. In der Regel enthalten solche Texte an irgendeiner Stelle folgende Formel: "x beschäftigt sich mit y". Die beiden folgenden Beispiele hat mir Google nach ein zwei Klicks geliefert und sie scheinen mir einigermaßen typisch zu sein. Jeder von Ihnen kennt so etwas: "Der Künstler beschäftigt sich in seinem interdisziplinären Arbeiten mit dem Interpretationsspielraum von Bildern ..." "Die Künstlerin beschäftigt sich mit der Fragestellung, wie lassen sich kulturhistorisch gewachsene Sehgewohnheiten hinterfragen..."

Ich fühle mich bei solchen Formulierungen oft wie in einen wissenschaftlichen, vielleicht soziologischen Forschungszusammenhang versetzt. Diese Formulierungen drücken in meinen Augen vor allem eines aus: eine große Distanz. Der Künstler oder die Künstlerin haben ihr Thema, welches sie nach allen Regeln der Kunst bearbeiten, um es am Ende ihrem Publikum zu präsentieren, welche die Fragestellung letztlich mit derselben Distanz begutachten oder soll man sagen "rezipieren" kann.

Mit dieser Formel gerät nach meinem Verständnis etwas Wichtiges aus dem Blick. Es gibt nämlich Fragen, gleichsam am Grunde unserer Existenz, die wir nicht dauerhaft auf Abstand halten können. Solche Fragen klopfen auch nicht vorsichtig an die Tür und warten darauf, dass jemand aufmacht, wenn es gerade passt. Sondern sie kommen wie Diebe in der Nacht, wie es in einer bekannten Bibelstelle heißt. Plötzlich stehen sie da und fordern uns heraus.

Man könnte vielleicht, etwas weniger dramatisch sagen, sie berühren uns.

Nicht anders geht es Rainer Lather mit dem, was ihn zum Arbeiten treibt: Es steht plötzlich vor ihm und fordert ihn heraus. Man möchte fast sagen, nicht er hat das Thema, sondern das Thema hat ihn. Er sagt: "Die Freiheit, die ich dann noch habe, ist, diese Aufgabe anzunehmen oder eben abzulehnen. Das Ablehnen wäre für mich allerdings das Gleiche, wie die Ablehnung eines Glücks, einer glücklichen Fügung…"

Aber worum geht es da? Was sind das für Aufgaben und Angebote, die man kaum ablehnen kann? Auch das kann ich natürlich nicht in irgend einer Form abschließend sagen. Ich möchte jedoch zwei Aspekte herausgreifen, die offenbar von großer Bedeutung für die Kunst Rainers ist.

Ich möchte über zwei Themen etwas sagen: über Kopf und Hand. Genauer: über das Gesicht und das Handwerk.

Was ist ein Gesicht?

Eine Kreuzworträtsel-Frage: „Vorderer Teil des Kopfes“ mit sieben Buchstaben. Die Antwort: Gesicht.

Jedoch wird meine einfache These sein: Das Gesicht ist NICHT der vordere Teil des Kopfes.

Man hört dem Wort Gesicht noch an, dass es seinen sprachlichen Ursprung im “Sehen” hat (Ge-Sicht). Die heutige Bedeutung entwickelte sich aus „Anblick, Antlitz“. Dabei ist das Gesicht, sowohl das, was einen anblicken kann, als auch das, was man selbst anblickt. Das Gesicht existiert also im Raum der Blicke. Dazu gehört jedoch eine grundlegende Asymmetrie: Das eigene Gesicht kennen wir wesentlich von Innen, aus der Innenperspektive. Das Gesicht des Gegenübers aus der Außenperspektive. (Innen und außen sind nur Hilfsbegriffe, sie sind natürlich viel zu grob, aber ich hab keine besseren.)

Gesichter sind daher in gewisser Hinsicht stets etwas Unvollständiges. Denn Gesichter sind wesentliches etwas Perspektivisches. Sie wären “vollständig”, könnte man die beiden Perspektiven (also von innen und von außen) “verschmelzen”. Aber weder geht das, noch wären unsere Gesichter dann noch das, was sie sind. Weil das perspektivische, unvollständige sie ja ausmacht.

Gesichter sind natürlich auch der Ort der Gefühle. Nirgends zeigen sich unsere Gefühle stärker als in unseren Gesichtern. Aber auch Gefühle sind nicht einfach irgendwo innen.

Manche Untersuchungen deuten sogar darauf hin, dass Gefühle wesentlich von der Möglichkeit abhängen, sich im Gesicht “ausdrücken” zu können. Wer die Gefühle nicht im eigenen Gesicht dem anderen zeigen kann. Und wer umgekehrt die Gefühle des anderen an dessen Gesicht nicht erleben kann, der kommt womöglich gar nicht erst in den Raum der Gefühle hinein. Dass wir Emotionen haben und zeigen können, hängt also auch (aber natürlich nicht nur) damit zusammen, dass wir die Gesichter der anderen “lesen” können. Diese Überlegung zeigt auch, warum die Begriffe “Innen- und Außenperspektive” so problematisch sind.

Jedes Gesicht, das Rainer Lather hier in der Ausstellung zeigt, erzählt eine Geschichte. Jedes dieser Gesichter zeigt, dass diese Person ein eigenes Leben führt. Aber “Person sein”, “Gefühle haben”, “nachdenklich sein” und anderes mehr - das sind jedoch keine “Dinge”. Sie sind nicht wie Steine, die man problemlos in Augenschein nehmen kann. Das alles zeigt sich zwar im Gesicht, aber es ist nicht einfach die Optik des Gesichts. Der Philosoph Emmanuel Levinas spricht daher nicht vom Gesicht, sondern vom Antlitz:

„Wenn Sie eine Nase, Augen, eine Stirn, ein Kinn sehen und sie beschreiben können, dann wenden Sie sich dem Anderen wie einem Objekt zu. Die beste Art, dem Anderen zu begegnen, liegt darin, nicht einmal seine Augenfarbe zu bemerken. Wenn man auf die Augenfarbe achtet, ist man nicht in einer sozialen Beziehung zum Anderen. Die Beziehung zum Antlitz kann gewiss durch die Wahrnehmung beherrscht werden, aber das, was das Spezifische des Antlitzes ausmacht, ist das, was sich nicht darauf reduzieren lässt.”

Das Gesicht ist also auch für Levinas nicht einfach der vordere Teil des Kopfes. Zum Gesicht kommt man nur, wenn man in eine Beziehung zu seinem Gegenüber tritt.

In einem berühmten Zitat bringt Levinas das alles auf den Punkt: "Einem Menschen begegnen heißt, von einem Rätsel wachgehalten gehalten zu werden.”

Der Begriff Begegnung ist an dieser Stelle wichtig! Viele der Figuren, die Rainer Lather malt, blicken uns nicht an. Ich hatte auch selten das Gefühl, dass eine von ihnen das Wort an mich richtet. Nichtsdestotrotz hatte ich immer das Gefühl, dass es hier um ganze und wirkliche Begegnungen geht. Der Dialog, die Spiegelung, der Rhythmus des Zeigens und Verbergens ist in irgendeiner Form “ganzheitlich” und ist nicht an den Kontakt mit den Augen (oder Worten) gebunden.

Eine der Stärken der Porträts von Rainer Lather liegt meines Erachtens darin: Die Porträts zeigen uns immer eine ganz bestimmte Person. Sie zeigen die Geschichte, die dieses bestimmte Gesicht sowohl zeigt, als auch verbirgt. Sie machen damit diese eine Person präsent. Und indem die Bilder sich dieser ganz besonderen Person in einem ganz besonderen Moment ihres Lebens zuwenden, machen sie sichtbar, was es überhaupt heißt, eine Person zu sein.

Ich finde, dass Rainer Lather es schafft, all das auf die Leinwand zu bringen. Ich kann ihnen aber jetzt leider nicht die Rezeptur dafür angeben, wie das möglich ist. Ich vermute auch, dass Rainer nicht irgendwo eine Kladde hat, wo er notiert, wie es geht.

Damit bin ich bei meinem zweiten Stichwort angelangt.

Was ist Handwerk?

So wie das Gesicht nicht einfach der vordere Teil des Kopfes ist, ist natürlich auch das Bild nicht einfach der vordere Teil der Leinwand. Das Bild ist ein Bild erst in der Begegnung mit dem Betrachter. Könnte man den Blick, der uns das Antlitz offenbart den ethischen Blick nennen, so kann man den Blick, der uns das Bild öffnet, den ästhetischen Blick nennen. Bei beiden geht es (auch) darum, das andere, vielleicht sogar das Fremde, als es selbst gelten zu lassen!

Aber den Bildern, bevor man sie in den Blick nehmen kann, muss noch eine "Kleinigkeit" vorhergehen. Rainer Lather muss sie erst mal schließlich malen. 🙂

Und so wie Gesichter die Geschichte ihres Lebens sowohl zeigen, als auch verbergen, so zeigen und verbergen die Bilder Rainer Lathers den Prozess ihres Werdens - ihre gemalt-Werdens. Und ich vermute, das ist einer der Gründe, warum sie den Themen, die den Künstler so berühren, auch gerecht werden.

Um das zu erreichen, muss Rainer Lather sich auf das, was er tut, auch verstehen. Er muss sein Handwerk können. Wenn der Philosoph Richard Sennett von Handwerk oder handwerklichem Können spricht, so meint er das Bestreben, eine Tätigkeit um ihrer selbst willen gutzumachen. Das scheint mir auch das Ethos Rainer Lathers zu sein.

Damit bin ich im Grunde fast am Ende.
Ich möchte mit etwas schließen, was mir selbst besonders am Herzen liegt: die Schönheit! Schönheit ist natürlich nicht einfach das Hübsche oder das Gefällige. Das wäre weit gefehlt.

"Was aber die Schönheit sei, dass weiß ich nicht" soll Dürer gesagt haben. Das geht mir im Grunde nicht anders. Doch der Philosoph Martin Seel hat eine Definition gewagt, die mir gefällt. Er bestimmt Schönheit in nur zwei Worten als "erscheinendes Gelingen". Hier haben wir also mit dem Gelingen im Begriff der Schönheit eine Klammer zum Handwerk!

Nach meinem Gefühl ist die Klammer für alles, worum es hier geht, unsere Fähigkeit, etwas um seiner selbst willen wertzuschätzen. Beim Blick in das Antlitz erkennen wir an, dass der andere ein Wert in sich selbst ist. Der Künstler ist in seinem Handwerk bestrebt, sein Werk um seiner selbst willen gutzumachen. Und in der ästhetischen Betrachtung der Kunst begegnen wir Dingen im Erscheinen um dieses Erscheinens Willen.

Es braucht also immer auch einen Betrachter, der sich auf die Sache wirklich einlässt. Das nenne ich: Hinsehen statt absehen. Um im Sehen wirklich zum Hinsehen zu kommen, muss man sich das Vertraute fremd machen. Das heißt es, die Augen zu öffnen. Das Betrachten der Kunst ist seinerseits eine Kunst. Wer sich auf diese Kunst versteht, ist eine Kunst-Hebamme. Sie bringt etwas zur Welt. Sie bringt das, was schon da ist, zum Vorscheinen, um seiner selbst willen.

Jörn Budesheim

Haus Tambaran

Das Haus Tambaran, das Ahnenhaus, ist der Mittelpunkt eines Dorfes der Sepikregion in Papua-Neuguinea. Neben anderen Nutzungen dient das auf Ständern stehende Langhaus als Aufbewahrungsort zahlreicher Holzbildhauerarbeiten, die verstorbene Mitglieder der Dorfgemeinschaft darstellen. Der Rat dieser geschnitzten Ahnen ist in Form der Tradition verfügbar und kann von den Mitgliedern der Gemeinschaft eingeholt werden – Tradition, wie Gustav Mahler sie definiert hat, nämlich als „Weitergabe des Feuers“ und nicht als „Anbetung der Asche“. Ob die Ergebnisse meiner Malerei geeignet sind, das Feuer weiterzugeben, mögen andere beurteilen, dass Malerei in meinem Fall die „Anbetung der Asche“ verhindert hat, ist hingegen gewiss.

Konterfei

Seit einigen Jahren ist das Porträt bzw. die Menschendarstellung das vorwiegende Thema meiner Arbeit. Die Porträts entstehen nach bearbeiteten digitalen Fotos und Skizzen. In Albrecht Dürers „Underweysung der messung“ von 1525 findet sich die Beschreibung eines Hilfsgeräts zur räumlichen Erfassung eines Objekts. Das Gerät wird mit den Worten kommentiert: „Solchs ist gut allen denen, die jemand wollen abconterfeien und die ihrer Sache nicht gewis sind.“ Den zweiten Teil des Dürer-Satzes möchte ich als Grundlage meiner Arbeit bezeichnen: sich seiner Sache nicht gewiss sein. Das trifft, so glaube ich, in hohem Maß zu, wenn man den Versuch unternimmt, einen Menschen in seiner Vielfältigkeit wahrzunehmen – egal, ob es sich um eine „künstlerische“ Auseinandersetzung mit dem Thema handelt oder um die „ganz normale“ Begegnung. Um Gewissheit zu erlangen, bedarf es geeigneter Hilfsmittel, zum Beispiel der Malerei.

Aus dem Katalog „Das Ganze im Einzelnen“

Bei der Herstellung eines gemalten Bildnisses schwingen per se Themen wie Vergänglichkeit und Vergessen mit: zum einen wird mit dem Abbild gegen diese Vorgänge angemalt, zum anderen dokumentiert es durch seine Existenz die Geschichtlichkeit, ist doch die Phase des Malens mit dem fertigen Bild abgeschlossen und bereits Teil der Vergangenheit.

In diesem Katalog gibt es nur wenige Bildnisse, in denen die dargestellten Menschen uns direkt anschauen, um mit uns in einen Dialog zu treten. Die meisten nehmen keinen Blickkontakt zu uns als Betrachtende auf, vielmehr blicken sie in die Ferne, an einen für uns nicht einsehbaren Punkt. Sie scheinen in sich versunken zu sein, das Betrachtetwerden hat keine Bedeutung für sie. Sie repräsentieren nicht, was bei einem Bildnis zu erwarten wäre, sondern sind eher mit sich beschäftigt. Durch die abstrahierten Hintergründe sind sie aus der Zeit genommen, haben keinen bildhaften Kontext, in dem sie zu verorten wären. Nur selten finden wir Andeutungen von Landschaft. Zu diesem „überzeitlichen“ Kontext kommen noch die Attribute hinzu, die einigen Personen beigegeben wurden und die durch ihre Singularität besonders in den Vordergrund treten und unsere Aufmerksamkeit einfordern: Da sehen wir wieder ausschlagendes abgeschnittenes „totes Holz“, das in den Händen gehalten wird, seltener üppig wachsende Pflanzen, häufig laubfreie Äste, die den Hintergrund bilden. Durch ihre Kargheit und ihre Dominanz als bildgestaltendes Motiv liegt es nahe, ihnen eine symbolische Bedeutung zuzuschreiben. Bei laubfreien Ästen ist die Assoziation an das Werden und Vergehen innerhalb des Jahreszyklus naheliegend und somit im Zusammenhang mit den davor präsentierten Menschen an das Werden und Vergehen des menschlichen Lebens. Dass dieses auch von inneren Krisen geprägt werden kann, zeigen jene Bildnisse, in denen der Dargestellte mit sich zu ringen scheint. Die Bildnisse sind nicht als reine „Abbilder“ zu sehen, vielmehr spielt die subjektive, individuelle Sicht Lathers auf die von ihm gemalten Menschen eine entscheidende Rolle. Es ist der vom Künstler geleitete Blick, der uns malerisch präsentiert wird: bestimmte physiognomische Merkmale, die am Modell faszinieren, die vielleicht auch besonders charakteristisch für diese Person sind, werden betont. Jedes Motiv erfordert laut Aussage Lathers seine ganz individuelle Umsetzung, die er auch nur auf diese Art und Weise umsetzen kann.

Die Standortbestimmung, das Hinterfragen des eigenen Tuns mittels des Malprozesses ist ein Thema, das die Selbstbildnisse bestimmt. Das Künstlerselbstbildnis hat eine lange Tradition, die mit der Renaissance einen Siegeszug begann. Zum einen diente es dazu, den Status als Künstler nach außen zu dokumentieren, zum anderen waren Selbstbildnisse für den Künstler seit jeher auch Mittel der Selbstbefragung. Die Darstellung der äußeren Erscheinung und die Darlegung der inneren Befindlichkeit verschmelzen in diesem Genre. In der malerischen Auseinandersetzung mit der eigenen Person, dem Bildnis, wird die Frage aufgearbeitet, wo man – nicht nur - künstlerisch steht. Es ist der wache, forschende Blick, der uns in den Selbstbildnissen entgegenblickt, d.h. mit dem sich der Maler anblickt, da wir als Betrachtende bei den Selbstbildnissen die Position dessen einnehmen, der sich selbst sieht und malt.

Das großformatige Selbstbildnis mit dem Titel Reset I scheint eine sehr angespannte Auseinandersetzung wiederzugeben. Dieses wird nicht allein am kritischen, angestrengten Blick des Malers, der gleißenden Beleuchtung sowie den kalten Farben deutlich. Auch der Bildtitel unterstreicht dies: Reset kennen wir aus der Computersprache; es steht für einen Neustart aus einer Havariesituation heraus, d.h. wenn der Computer hängt und keine Befehle mehr umsetzt. Die dürren, blattlosen baumartigen Gewächse, die als farbige Masse den Hintergrund beherrschen, bringen durch ihre zackige Form bedrohliche Spannung in das Bild und unterstreichen diese durch ihre unterbrochene Darstellung, die bis in die Figur übergreift und mit ihr an einigen Stellen verschmilzt.

Die Geschichtlichkeit in Form des Suchens, Befragens, Erforschens ist auch Grundlage des Zyklus Haus Tambaran, Ahnenhaus. Eine Kiste mit alten Fotos von unbekannten Verwandten war Anlass, sich malerisch den eigenen Ahnen zu nähern. Weshalb nun der Begriff Haus Tambaran? Rainer Lather war mehrere Jahre an unterschiedlichen Flecken der Erde in der Entwicklungshilfe tätig, so auch in Papua Neuguina. Dort lernte er einen anderen als den europäischen Umgang mit den verstorbenen Vorfahren kennen: Das Haus Tambaran ist das Haus der Ahnen, und zwar nicht in Form eines Totenkultes, d.h. der Totenehrung, sondern in diesem Haus existieren die Ahnen oder vielmehr ihr geistiger Anteil – in anderer Form materialisiert - weiter. Zahlreiche bemalte Holzarbeiten stellen die verstorbenen Mitglieder der Dorfgemeinschaft dar. Und die Lebenden pflegen die verstorbenen Ahnen in vielen Dingen des täglichen Lebens in diesem Haus um Rat zu fragen, lassen sie an wichtigen Ereignissen des Dorflebens teilhaben. 
Er war fasziniert von dieser Einbindung längst Verstorbener in das tägliche Leben und versucht nun in seiner Serie Haus Tambaran - mit seinem europäischem Hintergrund - seinen Ahnen näher zu kommen, sie in die Gegenwart einzubinden.

Die erste Auseinandersetzung mit dem ausgewählten Foto aus der erwähnten Fotokiste unbekannter Ahnen erfolgt in einer Schwarz-Weiß-Fassung. Diese Fassung ist noch nah an der Vorlage. Jedoch ist zu bedenken, dass es sich häufig um ganz kleine Fotografien von z.T. nur 5 x 5 cm handelt, die als Gemälde nun um ein Vielfaches vergrößert werden. Durch die Vergrößerung sowie durch das Mittel der Malerei gewinnen die Bilder an Bedeutung. Es ist nicht mehr eine kleine Fotografie unter vielen, sondern wird zu einem Unikat. Die ausgewählten Ahnen liegen nicht mehr in einer kleinen Kiste, sondern beanspruchen eine ganze Wand. Auch bei dieser ersten malerischen Umsetzung der Vorlage werden bereits kleinere Veränderungen vorgenommen, wenn der Bildinhalt durch Betonungen, Variationen oder auch Weglassungen gewichtet wird. Jedoch wird anhand äußerlicher Merkmale deutlich, dass es sich um Personen handelt, die in der Vergangenheit im Bild festgehalten wurden. In einer zweiten, jetzt farbigen Fassung des Motivs löst sich Lather weiter von der Vorlage, verfremdet die Dargestellten und ihre Umgebung. So werden die Personen in einen – zum Teil phantastisch anmutenden – entzeitlichten Raum gesetzt. Die Frau und der Junge (Haltlos), die in der Schwarz-Weiß-Fassung auf einer Bank sitzen, sitzen nun schwebend vor einem nicht näher zu identifizierenden, abstrahierten Hinter- und Untergrund, in den sie mit ihren Füßen zu versinken scheinen. Es entsteht der Eindruck, als wäre es ein Blick in eine andere, nicht fassbare Zeit, der uns mit diesem Bild ermöglicht wird. Ähnliche Empfindungen ruft auch das Bild Prolog hervor. Hier scheinen in der Farbfassung die Menschen in ein anderes Altersstadium gelangt zu sein, wenn ihre Gesichter den Eindruck von Greisen vermitteln. Die Erzarbeiter hingegen haben sich in der zweiten Fassung ihrer Umgebung angepasst. Sie verschmelzen ansatzweise - ebenso wie der kleine Junge in Vorhersage - durch Farbgebung und Bildstruktur mit dem Hintergrund.

Dr. Irene Ewinkel
Kunsthistorikerin, Marburg

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