…
The reason for fighting
I never did get
But I learned to accept it
Accept it with pride
For you don’t count the dead
When God’s on your side
(“With God on my side” Bob Dylan, 1964)
Rainer Lather
Frontlinien oder warum ich Kriegsdienstverweigerer1 bleibe
Noch vor einem Jahr hätte ich es nicht für möglich gehalten, dass es in der Bundesrepublik Deutschland eine öffentliche Auseinandersetzung unter reger Beteiligung aller bekannten Vertreterinnen und Vertreter der deutschen Betroffenheits- und Gesinnungsschwerindustrie geben könnte, die so radikal moralistisch, bipolar und monokausal geführt wird, wie die Debatte über die Unterstützung der Ukraine nach dem russischen Überfall. Das Lager der bedingungslosen Befürworterinnen und Befürworter von Waffenlieferungen an die Ukraine nimmt in bornierter Weise für sich in Anspruch, die einzig moralisch tragbare Entscheidung getroffen zu haben, und lässt keine Gelegenheit aus, Menschen als unmoralisch und deren Positionen als verwerflich zu diskreditieren, die neben der monokausalen Argumentation für Waffenlieferungen eine differenzierte Auseinandersetzung über die Frage nach den Ursachen für diesen Krieg führen wollen, um daraus Handlungsszenarien zu entwickeln, die eventuell geeignet sind, das Blutvergießen in der Ukraine zu beenden und zukünftiges zu vermeiden. Der permanente Hinweis, Putin, als ursächlicher Verbrecher, könne morgen den Krieg beenden, ist zwar in gewisser Weise richtig, richtig ist aber auch, dass die russische Bevölkerung, explizit die russischen Soldaten, den Krieg beenden können. Warum dies nicht geschieht und warum wir als Nation nichts dazu beitragen, dass es geschieht, ist eine von zahlreichen Fragen, die mich zu diesem Text veranlasst haben.
Denkt man ausschließlich in nationalstaatlichen Kategorien, ist der Fall ganz klar: Russland hat die Ukraine überfallen und für diesen Überfall einer Atommacht auf ein unabhängiges Land gibt es keine Rechtfertigung, so, wie seinerzeit der lügenbegründete2 Überfall der USA auf den Irak nicht zu rechtfertigen war (und ist). Man geht zum jetzigen Zeitpunkt (März 2023) davon aus, dass auf ukrainischer Seite seit Kriegsbeginn ca. 100.000 Soldaten getötet wurden und ca. 150.000 auf russischer Seite. Hinzu kommen ca. 8.000 zivile Opfer in der Ukraine. Die meisten dieser getöteten Menschen sind zwischen 20 und 40 Jahre alt. Junge Menschen, potenzielle Demokraten, die beide Länder dringend brauchen, um Menschenleben verachtenden Akteuren die Macht zu entziehen. Menschenverachtende Akteure sind auf nationalstaatlicher Ebene alle Kräfte, die aktiv wie passiv daran arbeiten, andere Menschen in eine Situation physischer Gewalt und damit verbunden der existenziellen Bedrohung zu bringen, sei es aus simpler Blödheit oder aus verbrecherischem Kalkül. Niemand wird ernsthaft bezweifeln, dass dieser Vorgang in erster Linie von politischen Akteuren in Gang gesetzt wird, die entweder selbst machthabend sind oder machthabende Akteure propagandistisch, terroristisch oder finanziell unterstützen. Krieg wird immer von einer solchen Gruppe initiiert und diese Gruppe ist es auch, die, egal ob Aggressor oder Verteidiger, sich der physischen Gefahr selbst nicht aussetzt. Man findet sie nicht an der Front unter Beschuss, man findet sie in sicheren Behausungen, weit ab von dem Geschehen, das sie in Gang gesetzt haben. Sterben, für welche Werte auch immer, müssen andere: Zum Dienst verpflichtete Menschen zwischen 20 und 40 Jahren und unbeteiligte, also nicht kämpfende Zivilisten. Wer hier anführt, die ukrainischen Soldaten kämpften freiwillig für ihr Land und unsere „gemeinschaftlichen Werte“, möge bitte schlüssig erklären, warum Männern zwischen 20 und 60 die Ausreise (Flucht) verwehrt wird. In der gesamten öffentlichen Diskussion über den Ukrainekrieg wird diese Tatsache auf die gleiche Weise ausgeblendet, wie sie immer ausgeblendet wurde: Man erklärt den Nationalstaat zu einer „Schicksalsgemeinschaft“ und damit zu einem Gebilde, in dem zwar Millionen Individuen mit unterschiedlichen Lebensentwürfen, Meinungen und Interessen leben, die aber im Kriegsfall auf wundersame Weise zu einer einzigen nationalstaatlichen Person verschmelzen. Somit sind als angreifende Nation alle schuldig und als angegriffene Nation alle unschuldig. Für jeden, der ein solches Nationen- und Menschenbild pflegt, ist jeder russische Gefallene ein tendenziell persönlich schuldhaft zu Tode gekommener Mensch und jeder ukrainische Gefallene ein unschuldig zu Tode gekommener Mensch. Unabhängig aber von der moralischen Frage sind beide tot. Spekulationen darüber, ob es Toten etwas bedeutet, wie die Lebenden ihren Tod moralisch bewerten, kann man den esoterischen Kultbeauftragten der jeweiligen Lager überlassen, die um eine propagandistisch wirksame Verherrlichung der „Gefallenen“ noch nie verlegen waren.
Die grundsätzlich verbrecherische Konstitution der jeweils anderen Seite wird in der Regel durch Gräueltaten (Folter, Vergewaltigung und Ermordung von Unbewaffneten) bestätigt, die jeder Krieg nach der kürzesten Zeit hervorbringt, ja diese „unkontrollierte“ Gewalt ist wesenhaft für den Krieg. Internationale Vereinbarungen wie die Genfer Konvention verschleiern dieses Wesen und erwecken den Eindruck, ein „zivilisierter“ Krieg sei irgendwie möglich.3 Das ist ungefähr so, als würde man international das Recht auf trockene Kleidung bei einsetzendem Regen vereinbaren.
Feindimplementierung und Kriegsbeteiligung
Bis zu dem Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine galt der immer verschwommener werdende Grundsatz der BRD keine Waffen an Konfliktparteien in Krisengebiete zu liefern und alle diplomatischen Bemühungen zu verstärken, um zumindest zu einem Waffenstillstand zu kommen. Seit der von der Regierung Schröder/Fischer beschlossenen und durchgesetzten Teilnahme Deutschlands an der Bombardierung Belgrads (ab 24. März 1999) im Verbund mit anderen NATO-Staaten weicht Deutschland von seiner bis dato passiven Rolle ab und wird mehr und mehr zum (militärischen) Akteur in internationalen Konflikten. Begründet wird das in der Regel mit dem Argument, Deutschland müsse als wirtschaftsmächtiges Land auch in militärischen Konfliktfällen „mehr Verantwortung“ übernehmen und ggf. mit anderen NATO-Mitgliedern militärisch eingreifen. Zu dem bedeutendsten und langwierigsten Einsatz kam es in Afghanistan. Nach dem Terroranschlag auf das World Trade Center in New York mit mehr als 3.000 Toten, der von der damaligen amerikanischen Regierung als Kriegserklärung verstanden wurde, erklärte die Bush-Administration den (weltweiten) „Krieg gegen den Terror“4. Der Terroranschlag auf das World Trade Center wurde von einer Gruppe junger krimineller Islamisten ausgeführt, von denen kein einziger aus Afghanistan stammte und deren Hauptorganisatoren in Hamburg studierten.5 Finanziert wurde der Massenmord von dem saudi-arabischen Millionär Osama bin Laden, Anführer einer islamistischen Terrororganisation namens Al-Qaida. Aufgrund des Verdachts, dass die islamistische Diktatur der Taliban Bin Laden und seinen Leuten erlaubt hätte, Afghanistan als sicheren Rückzugsort zu nutzen (was von den Taliban immer bestritten wurde), erklärten die USA den Taliban und somit Afghanistan den Krieg und attackierten das Land am 7. Oktober 2001 mit Luftangriffen. Die Amerikaner deklarierten ihren Angriff als Verteidigungsmaßnahme im „Krieg gegen den Terror“ und somit als Bündnisfall der NATO. Von ihren Verbündeten verlangten sie den aktiven Eintritt in diesen Krieg. Deutschland konnte sich offenbar jetzt nicht mehr verweigern, zumal die offene Opposition und die Nichtteilnahme an dem mit der bekannten Lüge, der Irak verfüge über Massenvernichtungswaffen5, begründeten Angriff auf den Irak zu erheblichen transatlantischen Spannungen geführt hatten. Wer glaubt, eine bundesdeutsche Regierung könne hier frei entscheiden, ignoriert die totale sicherheitspolitische Abhängigkeit Deutschlands und Europas von den USA. Jedenfalls dann, wenn man unter „Sicherheit“ die Option versteht, einen atomaren Erstschlag des Gegners mit ebensolcher Vernichtung beantworten zu können. Die damalige Regierung Schröder/Fischer stand also jetzt vor dem unangenehmen Problem, der deutschen Bevölkerung erklären zu müssen, warum man im Dezember 2001 Angehörige der Bundeswehr nach Afghanistan in Marsch setzte, einer Armee, die nur zur Landesverteidigung eingesetzt werden darf. Konnte man die völkerrechtswidrige Bombardierung Serbiens6 nach dem Massaker in Srebrenica noch damit rechtfertigen, ein zweites Auschwitz in Europa verhindern zu müssen, war das im Fall Afghanistan nicht möglich. Trotz der Tatsache, dass das damalige Regime der Taliban mit unseren Vorstellungen eines demokratisch verfassten Staates nichts zu tun hatte und es zu Grausamkeiten gegen die eigene Bevölkerung, insbesondere an Frauen kam, die nur noch mit der Grausamkeit der deutschen Besatzer Osteuropas im Zweiten Weltkrieg verglichen werden können, mit dem Unterschied, dass die Taliban keinen Holocaust initiierten, war dieser Krieg ohne Wenn und Aber ein völkerrechtswidriger Überfall auf ein souveränes Land und letztlich mit nichts zu rechtfertigen. In dieser Zwickmühle wurde dann schnell das Narrativ erfunden, die Bundeswehr sei zu einem „humanitären“ Einsatz gegen ein mittelalterliches Regime entsandt worden, beschütze und fördere die afghanische Zivilgesellschaft, insbesondere die Frauen, und leiste Aufbauhilfe, die letztlich zu einem demokratischen Rechtsstaat führen würde. Die narrative Spitze bildete die Behauptung des damaligen Bundesverteidigungsministers Peter Struck, die deutsche Freiheit werde „auch am Hindukusch“ verteidigt. Das hätte Joseph Goebbels nicht zynischer formulieren können. Auf deutscher Seite vermied man Jahre lang das Wort „Krieg“ und die Bezeichnung „humanitärer Einsatz der Bundeswehr“ war genauso verlogen wie die Bezeichnung des Überfalls auf die Ukraine als „militärische Spezialoperation“. Der ehemalige Botschafter der USA John Kornblum stellte das in einem Interview mit dem Deutschlandfunk (30.08.2021) klar: „ …wenn Sie genau nachforschen, wie die westliche Strategie sich entwickelt hat in den ersten Jahren ab der Petersburger Konferenz 2001, ist die Strategie des Nation Building, die sogenannte Friedensstrategie ausdrücklich auf Wunsch von Deutschland konzipiert worden, durchgesetzt von Deutschland, durchgesetzt von Schröder und Fischer vor allem – vor allem, weil man das Wort Krieg aus dem Wortschatz nehmen wollte für die NATO und für den Westen. Ab, sagen wir, Anfang 2002 hatten wir zwei Strategien nebeneinander: Einmal Al-Qaida ausrotten und einmal Nation Building. Und Nation Building war ohne Frage eine deutsche Erfindung.“ Damit war das amerikanische Kriegsziel klar benannt. Was nach dem „Al-Qaida ausrotten“ kommen sollte, war der US-Administration so egal wie im Irak, mit den bekannten Folgen.7 Der Krieg der NATO in Afghanistan endete so wie er für die ehemalige Sowjetunion in Afghanistan und für die USA in Vietnam geendet hatte: mit einem kompletten Scheitern der gesamten „Mission“. Wir sind besiegt worden, die Taliban sind wieder an der Macht. Die zahlreichen westlichen NGOs haben offenbar jahrelang an der Bevölkerung vorbeigearbeitet und sich der Illusion hingegeben, dass ihre lokalen Mitarbeiter (und deren Meinungen) die Mehrheit der afghanischen Bevölkerung repräsentieren. Ich stelle mir vor, ein Verband schwer bewaffneter ausländischer Soldaten käme mit Panzerfahrzeugen in mein Dorf, würde mich auffordern, mein Haus zu verlassen, um es durchsuchen zu können, und mir dann durch einen Übersetzer mitteilen, man sei in friedlicher Absicht gekommen, um mein Dorf und mein Land von feindlichen Landsleuten zu befreien und um eine Gesellschaftsordnung zu implementieren, die mir zwar fremd ist, aber nach Aussage der Schwerbewaffneten Frieden und Prosperität herstellen würde. Wer sich darüber wundert, warum dieses „freundliche“ Angebot auf wenig Gegenliebe stieß, stelle sich einfach mal vor, die Chinesen würden Deutschland besetzen, es mit Krieg überziehen und uns ihr politisches System mit Waffen in der Hand empfehlen. Vom ersten Tag an war die Afghanistan-„Mission“ zum Scheitern verurteilt und es ging ja auch, wie Kornblum sagte, nur darum, Al-Qaida (und die Taliban) zu vernichten.
Das Beispiel Afghanistan zeigt nach meinem Dafürhalten sehr gut, dass hier ein Krieg von Interessengruppen unter dem Vorwand der Verteidigung der eigenen Bevölkerung losgetreten wurde, die wiederum von der Bevölkerung des überfallenen Landes in keiner Weise bedroht worden war. Die Folgen solcher verbrecherischen Überfälle werden dann freilich ausschließlich von den Bevölkerungen der beteiligten Staaten getragen. Mit anderen Worten, Menschen werden zu Feinden erklärt, die sich niemals bedroht haben. Die maligne Mechanik, die es immer wieder ermöglicht, in ihrer deutlichen Mehrheit friedfertige Bevölkerungen zu Feinden zu machen, bedient sich bekannter Methoden, die, abhängig von der jeweiligen Zeit, den technischen Möglichkeiten und dem moralischen Erregungspotenzial im Großhandel propagandistischer Maßnahmen angeboten werden. Hierzu gehören in erster Linie Schuldzuschreibungen, die Betonung der „Andersartigkeit“ anderer Bevölkerungen, die Unterstellung böser Absichten und nicht zuletzt das Unterstreichen der Überlegenheit der eigenen Kultur und Moral. Um mit der Unterstützung einer Bevölkerung einen Krieg führen zu können, muss diese innerhalb einer bestimmten Zeit von der Bösartigkeit der „Anderen“ überzeugt werden. Während es 1934 für die Nazis noch sehr schwer gewesen wäre, jüdische Deutsche zu Hunderten am helllichten Tag zu einem Verladebahnhof zu treiben, war das acht Jahre später „kein Problem“ mehr.8 Dazwischen lagen Jahre, in denen durch penetrante Wiederholung der immer gleichen Lügen der neue Feind implementiert wurde. Offenbar reichen diese Wiederholungen aus, um große Teile einer Bevölkerung aufzuhetzen. Erschreckend und befremdend zugleich ist hier die Tatsache, dass dieser Verrohungsvorgang alle Bildungsschichten ergreift.9
Kriegsbegründungen und Propaganda
Die Ukraine ist von Russland überfallen worden. Diese Tat ist mit nichts zu rechtfertigen! Der hegemoniale Anspruch der selbsternannten russischen Herrenmenschen ist unübersehbar und stellt seit dem Zweiten Weltkrieg die schärfste Bedrohung der europäischen Bevölkerung dar. Putin und seine Herrenmenschen haben sich über Jahre hinweg in den Wahn hineinmanövriert, Russland sei, wie angeblich zu allen Zeiten, bedroht durch hegemoniale ausländische Mächte. Die politisch und wirtschaftlich Machthabenden des Westens wiederum haben sich jahrelang in den Wahn hineinmanövriert, gedankenlose und menschenverachtende Kreaturen wie Putin ließen sich durch gedankenlose neoliberale Märchen wie „Wandel durch Handel“ befrieden und Demokratie würde sozusagen wie der russische Schnee vom Himmel fallen und die Chancenlosigkeit und Verarmung weiter Teile der russischen Gesellschaft in einem allumfassenden Weiß eliminieren. Stattdessen ist es Putin weitgehend gelungen, weite Teile der russischen Gesellschaft davon zu überzeugen, dass der dekadente Westen und das damit verbundene Modell Demokratie den Bedeutungsschwund und den wirtschaftlichen Niedergang Russlands verursachen. Nichts weniger als den Schutz und den Fortbestand des russischen Menschen und der russischen Kultur gelte es zu verteidigen. Allzu offen liegt da, dass der ehemalige KGB-Offizier Putin die Schmach des Zusammenbruchs der Sowjetunion tilgen möchte, indem ein großrussisches Reich herbeigezwungen wird. Die Tatsache, dass Völker der ehemaligen Sowjetunion als eigenständige Staaten ohne russische Bevormundung und andauernde Gewalt leben wollen, empfinden die Machthaber der Kolonialmacht Russland als Herabwürdigung, die offenbar jeden Krieg und jedes Verbrechen rechtfertigt. Das alles ist wohlbekanntes Verhalten selbsternannter Herrenmenschen weltweit und zu allen Zeiten. Die Begründungen für die begangenen Verbrechen sind nahezu immer gleich. Die „Rückführung der Sudetendeutschen ins Reich“, der natürliche Anschluss Österreichs an das „deutsche Reich“, die Beantwortung „polnischer Provokation“ („…seit 5 Uhr 45 wird jetzt zurückgeschossen“), der präventive Überfall auf die Sowjetunion, der Schutz der Vietnamesen vor dem Terror des Kommunismus, die Verteidigung der freien Welt mittels Massakrierung vietnamesischer Bauern, der Krieg gegen den Terror in Afghanistan und dem Irak, die beständigen „Provokationen“ Chinas durch Taiwan, der „Schutz der russischen Bevölkerung“ im Donbas und auf der Krim, die „Reinheit des Blutes“ und so weiter.
Sowohl der erfolgreiche Angriffskrieg als auch die erfolgreiche Verteidigung eines Nationalstaats hängen von der relativen Geschlossenheit der betroffenen Bevölkerungen ab. Um diese relative Geschlossenheit (und Entschlossenheit) herbeizuführen, gibt es zwei Instrumente: Propaganda und Terror. Propaganda zielt darauf ab, eine Bevölkerung unter (scheinbar lebens-)übergeordneten Werten zu vereinen: Verteidigung der Freiheit, Verteidigung der eigenen Kultur, Verteidigung der Religion, Verteidigung der Menschenrechte, Verteidigung der Demokratie, Verteidigung der Ehre, Verteidigung der Umwelt,… Terror wird angewandt, wenn Propaganda den gewünschten Zusammenhalt nicht herzustellen vermag. Meistens erfahren wir eine Mischung beider Elemente, wobei festzustellen bleibt, dass, je freiwilliger die Identifikation mit den propagierten Werten ist, umso weniger Terror (bzw. Zwang) nötig ist, den „Kriegswillen“ einer Bevölkerung zu mobilisieren. Von hier aus ist es selbstverständlich, dass, bei allen Defiziten, ein Leben in demokratisch verfassten Ländern für den einzelnen Menschen sehr viel attraktiver ist, als in nicht demokratisch verfassten Ländern. Das ist Konsens in einer (demokratischen) Gesellschaft, solange es gelingt, die Freiheit des Einzelnen ins Recht zu setzen. Ist das nicht der Fall, erodieren die Demokratie und die damit verbundenen Werte, es öffnet sich das Einfallstor für Autokratie und Diktatur. Leider geschieht genau das in den westlichen Demokratien.10 Essenzielle Voraussetzung für Demokratie ist der freie Wille des Individuums zur Einhaltung konsensfähiger Regeln. Konsensfähig sind Regeln, die das friedliche Zusammenleben sichern. Regeln also, die den einzelnen Menschen Würde verleihen, indem sie Teilhabe an allen kulturellen Errungenschaften ermöglichen, die die Gesellschaft als Ganzes hervorgebracht hat. Das ist natürlich ein hochgestecktes Ideal, auf das wir aber als Kompass ebenso wenig verzichten können, wie auf das Ideal Gerechtigkeit. Wohl wissend, dass beides nicht total zu verwirklichen ist, wird die Regierung eines demokratisch verfassten Staates daran gemessen, wie sie die Würde des Einzelnen schützt, indem sie praktische Politik an dieser Würde und am Ideal der Gerechtigkeit ausrichtet. Dem entgegen stehen alle neoliberalen Ansätze, die unter Freiheit die Freiheit des Einzelnen verstehen, jede Egozentrik und jede Egomanie ohne Rücksicht auf die oben beschriebene Würde anderer ins Recht zu setzen. Im gleichen Maß, wie auf diesem Weg verheerender und falsch verstandener „Liberalität“ gesellschaftlich notwendige Interessenausgleiche abgelehnt werden und zum Beispiel billigend hingenommen wird, dass der monetäre und materielle Reichtum, der von der Gesellschaft als Ganzes hervorgebracht wurde, sich auf wenige Menschen verteilt, ist es ambitionierten Autokraten to be möglich, auf die Ungerechtigkeit und Würdelosigkeit der Demokratie zu verweisen, um sie letztlich mittels demokratischer Wahlen abzuschaffen. Mit anderen Worten: Die neoliberale Wende der neunziger Jahre hat das Vertrauen in die Institutionen der Demokratie nachhaltig beschädigt. Kein Mensch ist so blöd, zu glauben, dass die forcierte Umverteilung von unten nach oben und die damit einhergehende konzentrierte Verteilung des Reichtums auf wenige Akteure an den Idealen Würde und Gerechtigkeit ausgerichtet waren. Das Gegenteil ist für alle offensichtlich der Fall. Insofern ist es vollkommen klar, dass die antidemokratischen Phänomene AFD, Verschwörungsgläubige oder Reichsbürger vorläufige Ergebnisse einer verfehlten und demokratieschädigenden Politik sind, die mit der Regierung Schröder/Fischer in Form neoliberaler Maßnahmen in Deutschland eingeleitet und seither ununterbrochen fortgeführt wurde.11
Dieser Wechsel von einer sozialen Marktwirtschaft zu einem System deregulierter Finanzwirtschaft schien in den neunziger Jahren selbst den sozialdemokratisch gefärbten Regierungen in Großbritannien unter Blair, den USA unter Clinton und der Bundesrepublik unter Schröder/Fischer die einzige Möglichkeit zu sein, wirtschaftliche Vormacht gegen aufkommende Akteure wie China und Indien zu behaupten. Letztlich ist der neoliberale Kapitalismus ein internationales Monopolyspiel, in dem es hauptsächlich um den freien (also rücksichtslosen) Zugang zu Ressourcen geht, die dringend in immer größerem Maß gebraucht (und verbraucht) werden, um das Märchen des ewig möglichen Wirtschaftswachstums12 aufrechtzuerhalten. Die Frage, die sich immer deutlicher in den Vordergrund drängt, ist die, ob wir als Gesellschaft und als Individuen für die Aufrechterhaltung des mittelalterlich-religiös anmutenden Dogmas ständigen Wirtschaftswachstums tatsächlich alle friedlichen und lebenserhaltenden Möglichkeiten verweigern wollen, die noch nicht einmal neu erfunden werden müssen, sondern aus unserer eigenen Kulturgeschichte abrufbar sind.13 Wollen wir tatsächlich für einen kurzfristigen und angesichts des Klimawandels wahrscheinlich letzten Drogenrausch im Paradies unbegrenzt erhältlicher Produkte14 alle kulturübergreifenden Errungenschaften der westlichen Zivilisation aufs Spiel setzen? Der Klimawandel findet statt und lässt sich nicht mehr verhindern. Auch unser Leben wird sich drastisch verändern. Diesen Veränderungen werden wir nur dann erfolgreich als Individuen und Gesellschaften begegnen können, wenn wir uns einer lebenserhaltenden und fördernden Arbeit widmen, die das zivilisatorische Projekt15 voranbringt, also jenseits monetärer, egomanischer, egozentrischer und letztlich kriegstreibender Geschäftigkeit zu finden ist.
Kriegstreibende Geschäftigkeit, eine Voraussetzung für Wirtschaftswachstum
Seit dem Beginn der Industrialisierung wächst unser Bedarf an Rohstoffen sowohl zur Energieproduktion als auch zur Herstellung von Produkten kontinuierlich. Zum einen wissen wir schon seit Jahrzehnten von den verheerenden Auswirkungen steigender Energieproduktion auf der Basis fossiler Brennstoffe, zum anderen wissen wir (ebenfalls seit Jahrzehnten) um die Begrenztheit der Ressourcen für die Produktion von Konsumgütern. Unabhängig von diesen Erkenntnissen basiert ein weltumspannendes kapitalistisches Wirtschaftssystem auf dem unbedingten Zwang eines kontinuierlichen Wachstums, also dem kontinuierlichen Mehrbedarf und Verbrauch von Energie und Produktionsrohstoffen. Es ist vollkommen klar und seit der Kolonialisierung Afrikas, Amerikas und großer Teile Südostasiens durch europäische Mächte evident, dass es bei diesem Kampf um Rohstoffe „Gewinner“ und „Verlierer“ gibt, wobei unter den Verlierern über drei Jahrhunderte an erster Stelle die enteigneten, versklavten Völker Afrikas, Südostasiens und die nahezu ausgemordeten indigenen Völker Amerikas und Australiens zu verstehen sind, die für den europäischen Großbedarf an dem Rohstoff „Land“ ihr Leben lassen mussten. Mit der Französischen Revolution, die eine Reaktion auf den unerträglichen Gegensatz der zunehmenden Verelendung großer Teile einer Bevölkerung und dem anscheinend unbegrenzten Reichtum feudaler Machthaber war, begann das zivilisatorische Großprojekt Europas und Nordamerikas, das letztlich allen Menschen unveräußerliche Grundrechte zusprach16 und somit universale Menschenrechte einforderte. Diese Forderung war eine von zwei grundlegenden Voraussetzungen für die Entwicklung hin zu mehr oder weniger demokratisch geprägten Gesellschaften in Europa und Nordamerika. Die zweite und wesentlichere Grundlage für dieses zivilisatorische Projekt war der „Interessenausgleich“ unterschiedlichster Gruppen, der in Europa letztlich durch Kriege ausgetragen wurde und damit die Zivilisierung Europas immer wieder in ihr Gegenteil verkehrte. Nach dem Zweiten Weltkrieg und bis zu dem Überfall Russlands auf die Ukraine war diese Art des „Interessenausgleichs“ aufgrund der verheerenden Folgen des Krieges und der Entwicklung der Atombombe für Europa nicht mehr denkbar, wenn man den Jugoslawienkrieg außen vor lässt, dessen Entgrenzungspotenzial gering war. Nach dem Zweiten Weltkrieg war den westeuropäischen Staaten klar, dass sie nur überleben würden, wenn die jeweiligen Bevölkerungen „enthetzt“ und eine Teilhabe an demokratischen Entscheidungsprozessen, materielle Absicherung für alle und darüber hinaus die Chance auf den legalen Erwerb individuellen Wohlstands für alle ermöglicht würden. Um das zu erreichen und zumindest Krieg in Europa zu verhindern, war es unerlässlich, eine Art Zugangsgerechtigkeit beispielsweise durch Bildung und Verteilung des Wohlstands für alle herzustellen in Form von steuerfinanzierten Infrastrukturen in staatlichem Besitz (Gesundheitswesen, Forschung, Lehre, Kunst, Transport/Mobilität und so weiter).17 Die einzige Gemeinsamkeit der politisch-wirtschaftlichen Systeme, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg in Ost und West anbot, lag in dem jeweiligen Versprechen, gesellschaftliche Teilhabe durch Zugangsgerechtigkeit für alle herzustellen: im Kapitalismus in Form sozialer Marktwirtschaft und Demokratie in Westeuropa und Nordamerika und im Sozialismus in Form staatlich gelenkter Wirtschaft und Diktatur vor allem in Osteuropa, Eurasien und China. Beide Systeme waren darauf angewiesen, ihre zivilisatorische Berechtigung zumindest mit einem materiellen Wohlstand der jeweiligen Bevölkerungen zu legitimieren. Hierbei war das westeuropäische und nordamerikanische Modell unglaublich erfolgreich. Für eine Periode von ca. 20 Jahren (Ende der fünfziger bis Ende der siebziger Jahre) sah es so aus, als ob das westlich-zivilisatorische Projekt nicht aufzuhalten sei. Wir hatten es so weit gebracht, dass die koloniale Ausbeutung der sogenannten „dritten Welt“ (heute „globaler Süden“) mit dem Gerechtigkeitsempfinden der Europäer und Nordamerikaner nicht mehr vereinbar war. Die Kolonien in Afrika und Asien wurden in die Unabhängigkeit entlassen und sollten durch Entwicklungsprogramme und wirtschaftliche Unterstützung in den europäisch-amerikanischen Zivilisationsprozess eingebunden werden. Darüber hinaus wurden die katastrophalen Folgen der Kolonialzeit aufgedeckt und erforscht und nicht wenige Menschen in Europa und Nordamerika setzten sich aufrichtig mit geerbten Schuldverhältnissen auseinander, jedenfalls für eine gewisse Zeit. So weit, so gut. Das Gleiche (Einbindung in ihr zivilisatorisches Projekt) versuchten die Sowjetunion und später China natürlich auch und, wie wir heute erkennen müssen, insofern durchaus erfolgreich, als viele Länder des globalen Südens, also die Verlierer im neokapitalistischen Weltkrieg, sich von den westlichen Demokratien abwenden, weil unser „Wirtschaften“ das Elend und die Ungerechtigkeiten in diesen Weltgegenden nicht verringert, sondern oft verschärft hat, und das bei gleichzeitigem Bewusstsein über die von uns verursachten negativen Folgen (z. B. durch den Klimawandel). Von ambitionierten Mächten der Jetztzeit wie China, Indien und Russland erwarten die Länder des globalen Südens selbstverständlich keine Achtung ihrer Menschenwürde im Sinne der Aufklärung, sie wissen vielmehr sehr genau, dass das Interesse, egal von welcher Seite, einzig und allein ihren Rohstoffen gilt. Das Aufkommen mindestens einer neuen Weltmacht verschafft ihnen dabei einen strategischen Spielraum: Die Länder des globalen Südens können die Interessen der Großmächte gegeneinander ausspielen und wenn Westeuropa und Russland mit einem Krieg auf dem europäischen Kontinent beschäftigt sind, dann kommt diese „Zeitenwende“ den berechtigten Existenzsicherungsinteressen der Afrikaner und Asiaten unter Umständen sogar entgegen.18 Wer also naiverweise ausgerechnet in Afrika und Südostasien Mitleid und uneingeschränkte Solidarität mit Westeuropa und Amerika erwartet, ist geschichtsvergessen. Zusammenfassend ist Folgendes festzustellen: Unsere Wirtschaftsweise, die nur auf der Grundlage kontinuierlichen Wachstums funktioniert, kann dieses Wachstum nur dann zustande bringen, wenn der Rohstoffnachschub nicht nur gewährleistet, sondern gesteigert werden kann. Davon abgesehen, dass viele der benötigten Rohstoffe nicht regenerierbar, also endlich sind, ist diese Art des Wirtschaftens ebenfalls endlich. Die benötigten Rohstoffe müssen unter einem ständig steigenden Konkurrenzdruck beschafft werden. Das führt zwangsläufig in ein Dilemma mit extrem hohem Gewalt- und Vernichtungspotenzial.
Politischer Kulturalismus oder zivilisatorisches Projekt?
Meine Vorstellungskraft, wie man diesem Dilemma begegnen könnte, reicht nur für zwei Ansätze, den kulturalistischen und den zivilisatorischen Ansatz. Der kulturalistische Ansatz19 betont die eigene Kultur (wie auch immer sie definiert wird) als Verteidigungsbündnis gegenüber anderen Kulturen. Da geht es dann um sogenannte Werte wie zum Beispiel die Verteidigung von Demokratie und Freiheit, die selbstverständlich sehr unscharf definiert sein müssen, um von einem „Volk“ mehrheitlich akzeptiert (und ggf. kriegerisch verteidigt) werden zu können.20
Der (vorerst gescheiterte) zivilisatorische Ansatz geht von der Bestätigung der eigenen Kultur auf Grundlage der Anerkennung fremder Kulturen als gleichberechtigt in ihrem Recht auf friedliche (Ko-) Existenz aus. Das bedeutet, die Achtung und Würdigung einer anderen, fremden Kultur ist konstituierend für die Achtung und Würdigung der eigenen Kultur. Und nur in der anerkennenden und würdigenden Begegnung mit anderen Kulturen ist ein interkulturelles Lernen (voneinander) möglich. Das hat übrigens mit Multikulturalismus nichts zu tun.
Ich kann mich gut daran erinnern, dass der zivilisatorische Ansatz in den siebziger und achtziger Jahren gefühlter Konsens meiner Generation war. Ohne diesen Konsens hätte es die grüne Partei niemals gegeben. Ich verstehe nicht, wie man sich interkulturell über den Umgang mit lebensbedrohlichen globalen Problemen wie dem Klimawandel verständigen soll, wenn man in den primitivsten kulturalistischen Modus seit dem Dritten Reich zurückfällt, wie es bedauerlicherweise gerade geschieht. Natürlich frage ich mich, warum der kulturalistische Ansatz in Krisenzeiten (nicht nur) bei den Machthabenden eine so hohe Attraktivität genießt, obgleich er sich in der Vergangenheit als lebensbedrohende Option herausgestellt hat. Der Kulturalismus, wie wir ihn seit dem Kriegsbeginn in der Ukraine erleben, erlaubt die einfachste und plausibelste Herstellung moralischer Integrität einer Gesellschaft durch Frontbegradigungen, indem man wie oben beschrieben Schuld bzw. Unschuld nicht etwa den kriminellen Akteuren zuordnet, sondern den jeweiligen Kulturen. Wir erleben derzeit eine aktive Diskreditierung der gesamten russischen Kultur mit dem Zusatz, sich auf Jahrzehnte hinaus nicht mehr annähern zu wollen. Das Gleiche wird von der russischen Propaganda hinsichtlich westlicher Demokratien vorgetragen. Der kulturalistische Ansatz verstellt erfolgreich den Blick auf die ursächlichen Gründe für diesen Krieg (wie auch für alle anderen Kriege). Wir finden diese ursächlichen Gründe in den Vorstellungen machtbesoffener Autokraten, wir finden sie im Glauben an immerwährendes Wachstum, wir finden sie in der Überheblichkeit der eigenen Kultur, wir finden sie in der Umverteilung des gesellschaftlichen Wohlstands von unten nach oben, wir finden sie in neoliberal agierenden asozialen gesellschaftlichen Gruppen und Parteien21, wir finden sie in hemmungsloser Ressourcenbeschaffung und damit einhergehend in der Ablehnung jeglicher Verantwortung für die Existenzvernichtung betroffener Menschen, wir finden sie in der Rüstungsindustrie und dem Export von Waffen.
Das europäische zivilisatorische Projekt mit seinen Anfängen in der Französischen Revolution und mit seinem unbestrittenen und durchschlagenden technisch-wissenschaftlichen Erfolg durch die Aufklärung ist nach einem Hoch in der Nachkriegszeit wieder in Zustände zurückgefallen, die ich mir vor 30 Jahren noch nicht hätte vorstellen können, vielleicht auch nicht hätte vorstellen wollen. Zu groß war die Freude über die Überwindung des kalten Krieges, und auch ich war lange blind für den Wahnsinn, der sich durch die tatkräftigste westeuropäische Unterstützung einer immer hemmungsloser agierenden russischen Oligarchenmafia anbahnte. Zu keinem Zeitpunkt ging es den westlichen Akteuren darum, die Demokratie und damit das zivilisatorische Projekt in Russland zu fördern, so wie es sich Michael Gorbatschow sicherlich vorgestellt bzw. gewünscht hat. Und auch im Westen geht es nicht mehr um das zivilisatorische Projekt (das einmal die UNO hervorgebracht hat), sondern ausschließlich um die Aufrechterhaltung eines Wirtschaftssystems, das den Menschen zunehmend die Existenzgrundlage raubt. Die Befürworter militärischer Interventionen versuchen wieder einmal, militärische Gewalt als ultimatives Mittel darzustellen, um zivilisatorische Errungenschaften zu verteidigen. Bazon Brock beschreibt diese Logik als „verbotenen Ernstfall“: „Unter zivilisierten Menschen gilt, dass Kriege nur noch zur Verhinderung von Kriegen geführt werden dürfen.“ (Bazon Brock, Lock-Buch, S 174)
Als einzelner Mensch und Angehöriger einer Kultur sehe ich nur zwei Möglichkeiten: Ich kann mich entweder dem propagierten Kulturalismus anschließen und ihn ggf. mit Gewalt verteidigen, und das bedeutet die aktive Teilnahme am Krieg, oder aber ich kann in der grundsätzlichen und aktiven Ablehnung des Krieges durch Verweigerung und Desertion den politischen Kulturalismus ablehnen. Beide Optionen bedeuten für direkt Betroffene (Wehrpflichtige) Unterwerfung und ggf. dauerhaften Freiheitsverlust bzw. den Tod. Die kulturalistischen Werte, also der Glaube an die Überlegenheit, die Unschuld und die Gerechtigkeit der eigenen Kultur, sind keinen Fingernagel eines zwanzigjährigen Soldaten wert, solange die Kultbeauftragten (Politiker*innen, Journalist*innen, Analyst*innen, Lobbyist*innen, sogenannte Experten) der jeweiligen Kriegsparteien (und ihrer Verbündeten!) nicht selbst für diese Werte an der Front ihr Leben riskieren, erfahrungsgemäß also nie. Die Verteidigung des zivilisatorischen Projekts kann ich mir persönlich nur vorstellen, indem ich den Kriegsdienst verweigere. Das bedeutet aus den beschriebenen Gründen aber auch die strikte Ablehnung jeder Politik, die auf dem Glauben an ewiges Wirtschaftswachstum beruht und damit angesichts endlicher Ressourcen zwangsläufig Verteilungskriege initiiert. Ich bin jetzt 63 Jahre alt und hatte das Glück, niemals in eine Lage geraten zu sein, die mir diese Entscheidung im Ernstfall, also im Kriegsfall, abverlangt hat. Dazu gehört wesentlich mehr Mut, als es die Inanspruchnahme des Rechts auf Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen in der alten Bundesrepublik verlangte. Das Gleiche gilt natürlich auch für alle, die sich für den aktiven Kriegsdienst entscheiden, solange sie denn frei entscheiden können. Ich verstehe und achte die Gründe der Kriegsdienstbefürworter im Verteidigungsfall sehr wohl, kann sie aber aus allen beschriebenen Gründen nicht teilen. Daher gilt meine vorbehaltlose und unbedingte Solidarität allen Kriegsdienstverweigerern und allen Deserteuren aller Nationen, mit anderen Worten: allen bewusst unbewaffneten Menschen. Das sind meine Leute, egal welcher Kultur oder Nation sie angehören, und ich bin überzeugt davon, dass die überwiegende Mehrheit der Menschheit zu diesen Leuten gehört. Insofern finde ich den zivilisatorischen Ansatz der Kriegsdienstverweigerung und des Pazifismus nicht unrealistischer, als den Traum der Menschen, fliegen zu können, der über Jahrtausende den hoffnungslos Naiven vorbehalten war. Wenn mir also heute meine Naivität am Beispiel des Zweiten Weltkriegs mit der Begründung vor Augen gehalten wird, der Faschismus hätte nur mit Krieg besiegt werden können, dann gilt das vorbehaltlos ab 1939. Allerdings ist dieser Faschismus in den Jahren zuvor finanziert worden. Finanziert und damit ermöglicht wurde er genau so, wie der aktuelle russische Faschismus auch finanziert und ermöglicht wurde: auf der Grundlage skrupelloser Geschäftsinteressen, nicht nur der russischen Oligarchen!22 Für diesen verheerenden Fehler sterben, wieder einmal, hunderttausende Menschen.
Frieden schaffen mit immer mehr Waffen?
Der russische Überfall auf die Ukraine hat mir ein Dilemma beschert. So sehr ich den Kriegsdienst aus genannten Gründen ablehne, so sehr empört mich das ungeheure Leid, das Putin und seine Banditen über die ukrainische Bevölkerung und über die russischen Wehrpflichtigen gebracht hat. Nehmen wir an, das Kriegsziel der Ukraine und des Westens wird erreicht und die russischen Invasoren werden aus allen besetzten ukrainischen Gebieten verdrängt. Ist dann der Krieg gewonnen und ein gerechter Frieden kehrt ein? Immer wieder wird erklärt, es dürfe keinen Diktatfrieden und auch keinen Waffenstillstand geben, solange Teile der Ukraine besetzt sind. Gleichzeitig wird behauptet, dass jede Waffenruhe von den Russen genutzt werden wird, um sich für den nächsten Angriff auf den Westen zu rüsten. Aus Polen und den baltischen Staaten hört man von diesen berechtigten Ängsten. Glaubt man wirklich, dass diese Bedrohung nach einem solchen Sieg verschwunden wäre? Will man diese Bedrohung tatsächlich auf militärischem Weg loswerden, dann müsste man (und hier stimmt der Vergleich mit dem Zweiten Weltkrieg) Russland den Krieg erklären, es besiegen, besetzen und die Verantwortlichen vor ein internationales Gericht bringen und aburteilen. Das ist eine doch etwas naive Vorstellung, oder? Jedem ist klar, dass man eine Atommacht mit einem konventionellen Krieg nicht besiegen kann. Was Putin davon abhalten wird, NATO-Staaten anzugreifen, ist einzig und allein die Tatsache, dass die NATO Atomwaffen besitzt und einsetzen wird, sollte man in Moskau den Verstand restlos verlieren. Was uns also „schützt“, ist wie im kalten Krieg ein Abschreckungsszenario. Aus diesem Grund wird ja auch der freiwillige Verzicht der Ukraine auf Atomwaffen und der damalige Glaube an Vertragssicherheit heute als verhängnisvoller Fehler angesehen. Wie also kann man Autokraten ohne Krieg bekämpfen? Ganz sicher nicht, indem man zu Friedenszeiten Geschäfte mit ihnen macht. Wenn das alles stimmt, frage ich mich allerdings, welchen Sinn eine ungeheure Aufrüstung mit konventionellen Waffen eigentlich macht. Das macht nur Sinn, wenn man naiverweise darauf hofft, eine konventionell angegriffene Atommacht würde sich auch nur mit konventionellen Waffen verteidigen. Diese Hoffnung scheint mir so naiv, dass ich sie noch nicht einmal den deutschen Rüstungslobbyisten zutraue. Ich frage mich also, auf welche Bedrohung Deutschland und Europa mit der aktuellen propagandistischen Remilitarisierung der Gesellschaft und der geplanten Aufrüstung mit konventionellen Waffen reagieren. Wenn man der russischen Bedrohung also nur mit Abschreckung begegnen kann, dann bleiben für konventionell ausgerüstete Armeen nur sogenannte Out-of-Area-Einsätze und Grenzschutzkriege gegen Flüchtlingswellen übrig. Ich glaube, dass der Ukrainekrieg unter anderem dafür genutzt wird, die Bevölkerungen Europas genau darauf vorzubereiten. Der Krieg, der seit Jahrzehnten geführt wird und dessen sichtbare Opfer in Europa aktuell die ukrainische Bevölkerung und die russischen Wehrpflichtigen sind, ist ein Krieg, den der Börsenspekulant und Milliardär Warren Buffett in einem Interview mit der „New York Times“ 2006 benannt hat: „Es herrscht Klassenkrieg, richtig, aber es ist meine Klasse, die Klasse der Reichen, die Krieg führt, und wir gewinnen.“ (New York Times,26.11.2006). Dieser Krieg ist ein asymmetrischer Weltkrieg23, der durch konventionelle Aufrüstung befeuert wird. Die Verantwortlichen für diesen Krieg finden wir in allen Nationen und ich kann mich hier nur wiederholen: Die „Werte“ der Warren Buffetts dieser Welt, insbesondere wenn sie von „Freiheit“ reden, sind keinen Fingernagel eines Soldaten wert.
Zu guter Letzt
Ich habe weder eine Panzerhaubitze in einer Garage stehen noch befindet sich irgendeine andere Waffe in meinem Besitz. Hätte ich solche Waffen, würde ich sie augenblicklich verschrotten lassen. Stellen wir uns einmal naiverweise vor, die Deutschen hätten nach den von ihnen zu verantwortenden zwei Weltkriegen mit ihren unvorstellbaren Verbrechen das zivilisatorische Projekt auch in der Weise wieder aufgenommen, indem sie eine Wiederbewaffnung und eine Rüstungsindustrie abgelehnt hätten (wofür es bis in die fünfziger Jahre hinein eine Mehrheit in Westdeutschland gab), dann hätten wir als Nation, so wie ich als Einzelner, überhaupt keine Waffen zu liefern. Wie könnten wir dann den überfallenen Ukrainern zur Seite stehen? Einem Kampfbefürworter bliebe nur die Möglichkeit, das eigene Leben selbst an der Front zu riskieren und tatsächlich für seine Werte zu kämpfen und ggf. zu sterben. Jede andere Entscheidung würde ihn moralisch diskreditieren. Dieser Fall wäre die moralische Nagelprobe für eine Frau Strack- Zimmermann, einen Sascha Lobo, einen Jan Fleischhauer, einen Daniel Cohn-Bendit, einen Joachim Gauck, einen Wolf Biermann, kurz, für alle Apanagen-Empfänger des öffentlichen Diskurses, die sich ihrer moralischen Souveränität so sicher sind. Ich bin mir jedenfalls sicher, nicht ein einziger dieser nationalbesoffenen Kulturalisten und Gesinnungspatrioten würde sein Leben für die überfallene Ukraine einsetzen. So viel sind die von den Ukrainern für uns alle zu verteidigenden Werte dann doch nicht wert.24 Sowohl als Einzelner, erst recht aber als kriegsdienstverweigernde Nation hätten wir dann nur die Möglichkeit, allen russischen Soldaten beizustehen, indem wir ihnen im Fall ihrer Verweigerung und Desertion uneingeschränkte Unterstützung, zumindest Asyl und freundliche Aufnahme und ein Leben in würdigen Verhältnissen anböten. So lange jedenfalls, wie ihr Land von Banditen und Mördern (also von „lupenreinen Demokraten“ altsozialdemokratischer und vor allem neoliberaler Definition25) beherrscht wird. Ein solches Angebot von unserer Seite würde das faschistische Regime in Russland moralisch diskreditieren und auf Dauer schärfer bedrohen, als jede konventionelle militärische Abschreckung und Schuldzuweisung, die doch letztlich immer nur den Spielregeln folgt, die Autokraten und Diktatoren wie Putin vorgeben! Den Einsatz eines „Sondervermögens“ (fantasievolle Wortwahl für eine aus dem Bundeshaushalt ausgebuchte Sonderverschuldung) von 100 Milliarden Euro für einen solchen zivilisatorischen Akt würde ich uneingeschränkt befürworten und mit persönlichen Einschränkungen gerne unterstützen. Selbstverständlich ist das ein naiver Wunsch. Um ihn Wirklichkeit werden zu lassen, müssten wir uns in beschriebener Weise zivilisieren. Für dieses Zivilisierungsvorhaben gibt es keine politische Lobby mehr. Für die Freiheit, mit einem Porsche weiterhin mit 200 km/h auf deutschen Autobahnen fahren zu dürfen, schon. Dafür tritt jedenfalls die Partei von Frau Strack-Zimmermann26 ein.
Solange also konfliktkonstituierende Verhältnisse politisch befördert werden, gibt es zur Kriegsdienst- und Gewaltverweigerung für mich keine zivilisatorische Alternative. Verzichte ich auf das zivilisatorische Projekt, ist selbstverständlich jede Waffenlieferung an jedes überfallene Volk legitim, unabhängig davon, ob der Krieg von den Putins oder den Buffetts dieser Welt erklärt wurde. Alles klar?27
Anmerkungen
1 Im Jahr 1980 habe ich den Kriegsdienst „aus Gewissensgründen“ verweigert und war im Anschluss 18 Monate als sogenannter Zivildienstleistender in einer Werkstatt der Lebenshilfe Marburg tätig. Damals galt noch die allgemeine Wehrpflicht (für Männer) und um als Kriegsdienstverweigerer rechtlich anerkannt zu werden, musste man sich der Befragung eines „Gewissensprüfungsausschusses“ stellen. Seither begegne ich sogenannten Experten mit einem gewissen Unbehagen. Sein Gewissen selbst prüfte am 26. September 1983 der russische Oberleutnant Stanislaw Petrow. Das russische Abwehrsystem meldete einen Raketenangriff, den Stanislaw Petrow (eigenmächtig) als Fehlalarm einschätzte. Er gab diesen Alarm nicht an seine Vorgesetzten weiter und verhinderte so eine gefährliche Kettenreaktion, die zum atomaren Schlagabtausch hätte führen können. Dieser punktuellen „Kriegsdienstverweigerung“ haben wir vielleicht unser Leben zu verdanken.
2 Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 wurden die Suizidmörder und das hinter ihnen stehende Netzwerk als Großmacht interpretiert und es wurde ein neuartiger Dauerkrieg begonnen. Mit dem „Krieg gegen den Terror“ hat sich die Zahl der islamistischen „Gotteskrieger“ vervielfacht. Der Politikwissenschaftler Peter R. Neumann schätzte 2015, es gebe über hunderttausend Dschihadisten, und prognostizierte eine weitere Zunahme von Terrorismus. Wenn es das Ziel dieses Krieges war, den islamistischen Terror zu vernichten, dann ist das wohl ziemlich schiefgegangen.
3 Es gibt keinen Krieg, in dem es nicht zu sogenannten Gräueltaten kommt. Gemeint sind beispielsweise Massaker an Zivilisten, Folter und Ermordung von Kriegsgefangenen oder Vergewaltigungen. Das ist das Wesen eines Krieges und der Glaube, planmäßige gegenseitige Abschlachtungen ließen sich in „zivilisierter“ Form vornehmen, entstammt offenbar dem Bedürfnis, eine grausame Wirklichkeit durch ein kontrafaktisches Regelwerk zu ersetzen. Daran kann nur glauben, wer erfolgreich alle wissenschaftlichen Erkenntnisse zu Gewaltgeschehen bzw. Gewaltdynamiken beiseiteschiebt. (Vgl. hierzu u. a. Harald Welzer „Täter“ oder „Klimakriege“.)
4 siehe Anmerkung 2
5 Von Oktober 2001 an behaupteten die Regierungen Großbritanniens und der USA, der Irak verfüge über Massenvernichtungswaffen, und begründeten damit ihren Krieg gegen den Irak. Außerdem wurden Verbindungen zum Terrornetzwerk Al-Quaida unterstellt. Bis 2007 widerlegten Untersuchungen u. a. der UNO diese Behauptungen.
6 Am 24. März 1999 begann der sogenannte Kosovokrieg mit der Bombardierung Belgrads durch die NATO. Es war der erste Krieg mit deutscher Beteiligung seit 1945. Der Krieg dauerte 78 Tage und war vom Sicherheitsrat der UNO nicht gedeckt und somit völkerrechtswidrig. Der Krieg forderte 12.000 bis 15.000 Tote, darunter ca. 500 Zivilisten, die als „Kollateralschaden“ bezeichnet wurden. Nach dem Massaker von Srebrenica befürchtete man die Vertreibung und Ermordung der Kosovoalbaner durch Serbien. Das wurde jedenfalls als Kriegsgrund genannt.
7 Der Islamische Staat, kurz IS, ist eine direkte Folge des amerikanischen Kriegs gegen den Irak. Der IS hatte zeitweilig große Gebiete im Irak und in Syrien unter seiner Kontrolle. Die IS-Kämpfer errichteten überall ein Regime des Terrors, töteten unzählige Menschen auf bestialische Weise und verfolgten das Ziel, ein islamisches Kalifat auf dem Gebiet des Iraks, Jordaniens, Syriens und Israels zu errichten. Zahlreiche Terroranschläge in Europa und dem Nahen Osten gehen auf das Konto des IS. Ehemalige Angehörige des Saddam-Hussein-Regimes gelten als Mitgründer und Logistiker dieser Terrororganisation.
8 „Shifting Baselines“ nennt Harald Welzer dieses Phänomen in seinem Buch „Klimakriege“. Gemeint ist die allmähliche Gewöhnung einer Bevölkerung oder Gruppe an durch Regierungen veranlasste Maßnahmen, die vormals als moralisch inakzeptabel galten. Nach einem Jahr Ukrainekrieg wird die indirekte Teilnahme Deutschlands an konventionell geführtem Krieg nicht mehr hinterfragt. Das wäre vor dem Kosovokrieg und dem Afghanistan-Einsatz undenkbar gewesen. Vor wenigen Tagen (29.3.2023) las ich folgende Überschrift in der „Oberhessischen Presse“: „Deutsche Panzer sind pünktlich an der Front“. Panzer und Pünktlichkeit! Deutschland liefert wieder einmal Altbewährtes (leider nicht bei der Deutschen Bahn). Hinsichtlich der „Shifting Baselines“ gibt es keine erfolgreichere Partei auf dem Gebiet autosuggestiver Propaganda als die Grünen.
9 Acht von fünfzehn Teilnehmern der Wannseekonferenz waren promoviert, sieben davon in Jura, einer war promovierter Philosoph, zwei weitere hatten ein juristisches Studium abgeschlossen. Zwei Teilnehmer hatten Abitur, nur drei hatten die „höhere Schule“ nicht besucht. Humanistische Bildung scheint geradezu eine Voraussetzung für die Planung industriellen Massenmords zu sein.
10 Ungarn ist bereits eine Autokratie, Polen zeigt sich rechtsstaatfeindlich und in Israel gehen Millionen Bürgerinnen und Bürger auf die Straße, um eine rechtsreligiöse (und stark korrupte) Regierung an der Vernichtung einer unabhängigen Justiz zu hindern. Wie sich die Rechtsstaatlichkeit in den USA entwickeln wird, bleibt abzuwarten. Die Millionenschar der Trumpanhänger lässt hier nicht viel Hoffnung.
11 „Neoliberale Politik“ ist eine Ideologie, die als Grundlage für ein gelingendes gesellschaftliches Zusammenleben einen uneingeschränkten „Markt“ vorsieht. Das Marktgeschehen ist aus neoliberaler Sicht ein freies Spiel der Kräfte ohne staatlichen Eingriff. Ein gesellschaftliches Leben funktioniert danach also nur dann gut, wenn man Marktmechanismen wie Angebot und Nachfrage ohne jegliche staatliche Regulierung ihren (unkontrollierten) Lauf lässt. Auch dann, wenn beispielsweise im Finanzsektor „Produkte“ angeboten werden, die keinen realen Gegenwert haben. So jedenfalls wünschen sich das die fundamentalistischen Vertreter dieser neureligiösen Glaubensgemeinschaft, die an die Selbstvermehrung materieller Güter durch die schuldenbasierte Selbstvermehrung des Geldes glauben. Seit den Deregulierungsanstrengungen („Reformen“) der Regierung Schröder ist der Neoliberalismus auch in Deutschland wirtschaftliche Leitideologie, trotz aller sichtbaren Verwerfungen (Bankenkrise). Das Menschenbild der neoliberalen Ideologie geht von dem evolutionären Grundsatz des „Survival of the fittest“ aus, das leider zu oft als „Überleben des Stärkeren“ verstanden wird, obgleich es richtig „Überleben der Angepasstesten“ heißt. Für die neoliberalen Vertreter in Politik und Wirtschaft sind also die „Verlierer“ ein nicht zu verhindernder Bestandteil dieses Systems, das sich in perfider Weise auf evolutionäre Evidenz beruft. Es versteht sich von selbst, dass menschliche Regungen wie Empathie und Solidarität mit Schwächeren und das Bedürfnis nach gemeinschaftlich solidarischen Sicherungssystemen dem neoliberalen Menschenbild entgegenstehen. Die Deregulierung des Finanz- und Arbeitsmarktes ist also eine radikale Abkehr des Staates von der Verantwortung für das Wohlergehen der gesamten Gesellschaft und somit eine wirtschaftliche Kriegserklärung an alle Menschen, die ihr Leben diesem wahnsinnigen wirtschaftlichen Primat nicht unterstellen wollen. Für das vollkommene Scheitern des neoliberalen Ansatzes steht unter anderem die sogenannte Bankenkrise. Großbanken hatten sich in den von ihnen erfundenen „Finanzprodukten“ so sehr verheddert, dass selbst die Hohepriester dieser Religion eingestehen mussten, dass es auf Dauer nicht möglich ist, virtuelle Werte zu handeln, die nicht mehr von realen Werten (Produkten/Dienstleistungen) gedeckt sind. Um das System dennoch aufrechtzuerhalten, wurden diese Institutionen mit Milliarden von Steuergeldern und Neuverschuldungen (dem Funktionsherzstück dieses Systems) „gerettet“, also ausgerechnet jene Institutionen, die nach ihren eigenen wirtschaftlichen Glaubensgrundsätzen unbedingt hätten verschwinden müssen. Ausgerechnet jene politischen und wirtschaftlichen Kräfte, die jede staatliche Fürsorge ablehnen, forderten in der unverschämtesten Weise gesellschaftliche Solidarität zu ihrer Rettung! Einen schlagenderen Beweis für ihr Missverständnis von „Survival of the fittest“ hätten sie nicht vorlegen können. Menschen sind soziale Wesen. Das heißt, dass ihr Wohlergehen und Überleben von der Fähigkeit abhängt, sich mit den Mitmenschen friedlich zu arrangieren. „The fittest“ in diesem Sinn sind jene, die Empathie und Solidarität als Grundlage menschlichen Überlebens verstehen. Von der Anerkennung dieser überlebenswichtigen Tatsache sind wir leider wieder sehr viel weiter entfernt als noch vor 40 Jahren.
12 Ludwig Erhard, der „Vater“ der sozialen Marktwirtschaft, wird von neoliberalen Kräften gerne als Kronzeuge ihrer Ideologie benannt. Hier zwei Zitate Erhards, die weder einer hemmungslosen Deregulierung noch einem grenzenlosen Wirtschaftswachstum das Wort reden: „Mit steigender Produktivität und mit der höheren Effizienz der menschlichen Arbeit werden wir einmal in eine Phase der Entwicklung kommen, in der wir uns fragen müssen, was denn eigentlich kostbarer oder wertvoller ist: noch mehr zu arbeiten oder ein bequemeres, schöneres und freieres Leben zu führen, dabei vielleicht bewusst auf manchen güterwirtschaftlichen Genuss verzichten zu wollen (1957).“
„Ich glaube nicht, dass es sich bei der wirtschaftspolitischen Zielsetzung der Gegenwart gleichsam um ewige Gesetze handelt. Wir werden sogar mit Sicherheit dahin gelangen, dass zu Recht die Frage gestellt wird, ob es noch immer richtig und nützlich ist, mehr Güter, mehr materiellen Wohlstand zu erzeugen, oder ob es nicht sinnvoller ist, unter Verzichtleistung auf diesen ,Fortschritt’ mehr Freizeit, mehr Besinnung, mehr Muße und mehr Erholung zu gewinnen.“ (1972). Vergleiche hierzu auch Bertrand Russells Essay „Lob des Müßiggangs“ von 1935.
Man fragt sich, was für eine „Wissenschaft“ die sogenannten Wirtschaftswissenschaftler eigentlich in den letzten 50 Jahren betrieben haben. Von einer Vernunft, wie sie Erhard äußert und Bertrand Russell bereits 1935 dargelegt hat, ist der Mainstream dieser Leute jedenfalls weit entfernt. Man gewinnt den Eindruck, dass es sich bei den Vertretern dieser Disziplin mehrheitlich um Auguren handelt, um Kaffeesatzleser, die am Mittwoch wortreiche Analysen vorlegen, die erklären, warum ihre Prognosen vom Dienstag falsch waren.
13 Vorläufig wäre es ein enormer Fortschritt, wenn sich politische Entscheidungsträger wieder etwas mehr als Volksvertreter verstehen würden und nicht als Interessenvertreter oft marginaler Bevölkerungsgruppen, wie zum Beispiel des einen Prozents, das 30 Prozent des Vermögens in Deutschland besitzt. (Anthony Shorrocks, Jim Davies, Rodrigo Lluberas: Global wealth report 2019: „Wealth inequality is higher in Germany than in other major West European nations (…). We estimate the share of the top 1% of adults in total wealth to be 30%, which is also high compared with Italy and France, where it is 22% in both cases. As a further comparison, the United Kingdom[’s] … share of the top 1% is 24%.“).
14 Eine erfolgreiche Produktentwicklung im Sinn neoliberaler Wirtschaftsideologie basiert auf dem Potenzial eines Produkts, Konsumenten auf rein kontrafaktischer Ebene anzusprechen: Geltungsbedürfnis, Besitzvorteil gegenüber anderen, Neid, Selbstoptimierung und so weiter. Kriterien wie Langlebigkeit, Nachhaltigkeit, geringer Energieverbrauch bei der Produktion, Nützlichkeit, Dienlichkeit spielen hier eine untergeordnete bzw. keine Rolle. Wir werden überhäuft mit nutzlosen, schädlichen und überflüssigen Produkten, die unsere Daseinsgrundlage und damit uns selbst massiv schädigen und von denen wir gestern noch nicht wussten, warum sie heute „unentbehrlich“ für uns sein sollen.
15 Das zivilisatorische Projekt ist der Versuch (seit der Antike), Ordnungen zu etablieren, die ein friedliches und menschenwürdiges Zusammenleben ermöglichen, unter Anerkennung und Würdigung anderer Kulturen und Interessen, ein Ausgleichsverfahren jenseits der Gewalt. Demokratie ist das vielversprechendste zivilisatorische Projekt, wenn es sich an den Parametern Gerechtigkeit, Würde des Einzelnen und Fürsorge für Schwächere ausrichtet.
16 Unter „allen“ Menschen verstand man vor 250 Jahren zunächst einmal die weißen europäischen (europäisch-stämmigen) Männer. Frauen hatten ab 1920 ein Wahlrecht in den USA und in Frankreich erst ab 1944. Die ersten amerikanischen Präsidenten, die aus dieser Männerdemokratie hervorgegangen waren, waren Sklavenhalter. Dennoch gehören die amerikanische Verfassung von 1787 und die Französische Revolution zu den Anfängen des neuzeitlichen zivilisatorischen Projekts.
17 Die mit der neoliberalen Politik einsetzende Privatisierung öffentlichen Eigentums (Bahn, Post, Sozialwohnungen, Kliniken, kommunale Dienstleister und so weiter) hat die Demokratie massiv beschädigt, indem Entscheidungen über wichtige gesellschaftliche Infrastrukturen dem Souverän, also der Bevölkerung, entzogen wurden. Politische Machthaber verstehen sich heute nicht mehr als Exekutive eines demokratischen Mehrheitswillens, sondern als „Vermittler“ zwischen Mehrheitswillen und Minderheitsinteressen. So kommt es immer wieder zu der realsatirischen Situation, dass eine Regierung etwas „fordert“, für dessen Umsetzung sie gewählt wurde. An welche nicht legitimierte Macht eine gewählte Regierung ihre Forderung stellt, bleibt freilich im Dubiosen.
18 Auch in der postkolonialen Zeit haben die ehemaligen Kolonialmächte den Afrikanern ihre menschenverachtende Fratze gezeigt, indem sie alles daransetzten, in den ehemaligen Kolonien Regierungen zu implementieren, die ihnen weiterhin den ungehinderten Abbau von Bodenschätzen ermöglichten. Demokratisch legitimierte Regierungen, die über ihre Bodenschätze und ganz generell über ihr gesellschaftliches Leben selbst bestimmen wollten, wurden mit offener westlicher Unterstützung von Putschisten gestürzt und durch diktatorische Banditen ersetzt. Musterbeispiel hierfür ist die Absetzung und Ermordung des kongolesischen Ministerpräsidenten Patrice Lumumba 1961 mit belgischer und amerikanischer Unterstützung. Vgl. hierzu u. a. Ludo de Witte: Regierungsauftrag Mord. Der Tod Lumumbas und die Kongo-Krise. Forum, Leipzig 2001.
19 Gemeint ist hier der Abgrenzungskampf einer Kultur gegen eine andere Kultur unter dem Vorwand, die eigene Kultur nur so retten zu können. Das geht einher mit kämpferischem Patriotismus und einem Nationalismus, der vorgibt, im Kampf gegen eine andere Nation die Zivilisation retten zu müssen. Vgl. hierzu Bazon Brock: Lustmarsch durchs Theoriegelände (Dumont), Kapitel Kultur versus Zivilisation ab Seite 176.
20 Demokratie und Freiheit erfährt ein lohnabhängiger Bürger, wenn er zur Wahl geht und seine Stimme abgibt. Hier kann er die grobe politische Ausrichtung mitbestimmen. Außerhalb dieses Vorgangs, insbesondere im betrieblichen Alltag in der sogenannten freien Wirtschaft, erfährt man das nicht oder nur rudimentär in Großbetrieben/Konzernen. Entscheidungen treffen hier Besitzer oder von Besitzenden eingesetzte Geschäftsführer. Die einzige Freiheit, die ich in 46 Arbeitsjahren erfahren habe, war die Freiheit, zu kündigen, wenn’s mir nicht passte. Das ist nicht nichts und tatsächlich habe ich davon regen Gebrauch gemacht.
21 Die asoziale Ausprägung der reinen Lobbyisten-Partei FDP ist mittlerweile so stark und demokratieschädlich, dass man bei den politischen Aushängeschildern dieser Partei von uneingeschränkter, d. h. pathologischer Egozentrik ausgehen muss, um wenigstens noch ein anthropologisches Interesse für die charakterlich deformierten Repräsentant*innen dieser Partei aufbringen zu können.
22 Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wurden lukrative staatliche Unternehmen mit westlicher Unterstützung „privatisiert“.
D. h., unglaubliche Vermögen wurden z. T. ehemaligen KGB-Offizieren zugeschanzt, die durch nichts legitimiert waren. Der sogenannte Westen hatte gegen diese Privatisierung, die man getrost als größten Raubzug eines Banditenpacks seit Raubritterzeiten bezeichnen kann, nicht nur nichts einzuwenden, sondern beförderte sie mit der fadenscheinigen Begründung, sich aus innenpolitischen Entscheidungen der russischen Regierung(en) heraushalten zu wollen. Der neoliberale Zwang, unter allen Umständen alles zu befördern, was den möglichst günstigen Zugang zu Rohstoffen ermöglicht, hat die innerrussische Bestrebung nach Demokratie sicher nicht befördert.
23 Als asymmetrischen Krieg bezeichnet man einen Konflikt, bei dem die Kriegsparteien waffentechnisch, organisatorisch und strategisch stark unterschiedlich aufgestellt sind. Wenn ein Milliardär den Habenichtsen den Krieg erklärt, kann man wohl von einer asymmetrischen Ausgangslage ausgehen.
24 So geflissentlich, wie die 68er-Bewegung über nachgewiesene Verbrechen des Vietkong an der eigenen Bevölkerung hinwegsah, so geflissentlich sehen deren (ehem.) Vertreter heute über die in den Pandora-Papers nachgewiesene Korrumpierbarkeit Selenskyjs und über die uneingeschränkte Verehrung des ukrainischen Nationalisten, Faschisten, Judenhassers und Pogrominitiators Stepan Bandera durch den ehemaligen Botschafter und jetzigen stellvertretenden Außenminister der Ukraine Andrij Melnyk hinweg. Thilo Jung, einer der besten Journalisten, die wir haben, hat die Verehrung Melnyks für Bandera nachgewiesen; „Jung und naiv“, Folge 580. Die korrupten Aktivitäten Selenskyjs zusammen mit dem ukrainischen Oligarchen Ihor Kolomojskyj wurden von Yana Lysenko in einem Beitrag für die Bundeszentrale für politische Bildung dargestellt und sind außerdem Inhalt einer ukrainischen Reportage über Selenskyj auf Youtube: https://www.youtube.com/watch?v=Pp0WWZbNGq4
Gemessen an dem russischen Überfall handelt es sich in den Augen unserer Zeitenwende-Heldenverehrer bei den genannten Verfehlungen um moralische Kollateralschäden. Mag sein, allerdings ist das selbstverständlich eine Steilvorlage für die russische Propaganda, die durch Bilder öffentlicher Denkmäler für Stepan Bandera in der Ukraine noch befördert wird.
25 Die geradezu lächerlichen Abgrenzungsversuche heutiger SPD-Politiker meiner Generation gegenüber ihrem ehemaligen Förderer, Altkanzler Schröder, kann man getrost unter der Überschrift „Realsatire“ abhaken. Weniger lustig ist natürlich die Tatsache, dass sie die neoliberale Schrödersche und Merkelsche Wirtschaftspolitik mit ihrer demokratiefeindlichen und somit kriegstreibenden Geschäftigkeit ungehemmt fortführen.
26 Frau Strack-Zimmermann hat in ihrer Funktion als Vorsitzende des Verteidigungsausschusses des deutschen Bundestages funktionsbedingte enge Kontakte zur Rüstungsindustrie. Sie kämpft leidenschaftlich für die Wiederherstellung der konventionellen Einsatzfähigkeit unserer Streitkräfte. Außer der materiellen Ausstattung der Bundeswehr hält sie die Etablierung eines Feindbildes bei den Soldaten für notwendig und schlägt dafür – selbstredend – Russland vor. Außerdem weiß sie genau, „Was Deutschland jetzt lernen muss“. Dieses Pamphlet fiel mir nach einem verpassten Zuganschluss in einer Bahnhofsbuchhandlung in die Hände und die Stunde bis zum nächsten Zug reichte aus, um das Werk zu lesen, ohne es kaufen zu müssen. Es schien mir von einer KI auf dem Intelligenzniveau eines Vier-Grundrechenarten-Taschenrechners von 1973 verfasst worden zu sein, der in einer reduzierten FDP-Version ohne die Funktionen für Subtraktion und Division, also „weniger“ und „teilen“ auskommt.
27 Alles klar? Natürlich nicht! Es fällt mir zugegebenermaßen schwer, zu den Kriegsgeschehnissen in der Ukraine eine vor mir selbst belastbare Position einzunehmen. Ich halte es grundsätzlich für möglich, mich zu täuschen, einen Sachverhalt nicht richtig einzuschätzen und eventuell eine falsche Entscheidung zu treffen. Von solchen Selbstzweifeln scheinen die Waffenlieferungs- und Aufrüstungsbefürworter nicht befallen zu sein. In meiner Wut über das russische Vorgehen neige ich mitunter selbst zur Einfältigkeit. Es wäre überheblich, aus meiner Situation heraus eine Hypothese darüber zu wagen, wie ich mich selbst als Ukrainer in dieser Situation verhalten würde. Trotz aller hier vorgetragenen Gründe kann ich nicht sicher sagen, wie ich mich entscheiden würde. Hätte ich den Mut, den Kriegsdienst zu verweigern und Gefängnis und gesellschaftliche Ächtung in Kauf zu nehmen? Hätte ich den Mut, ggf. eine russische Diktatur zu ertragen? Hätte ich den Mut, einer Diktatur mit gewaltlosen Mitteln entgegenzutreten und mein Leben zu riskieren? Hätte ich den Mut, an die Front zu gehen und zu kämpfen? Würde ich Flucht in Erwägung ziehen? Für wen oder was lohnt es sich, zu sterben, für wen oder was lohnt es sich, am Leben zu bleiben?
Rainer Lather, April 2023